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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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gaijin, gaijin, »Ausländer, Ausländer« nachrufen. Dann gibt es noch das andere Tokioter Straßenleben: die blinden Masseusen, die Flechter der Tatami-Matten, die Verkäufer von eingelegtem Gemüse, die verkrüppelten alten Frauen, die Mönche. Die Händler, die Streifen von gepfeffertem Schweinefleisch verkaufen, gelbbraunen Tee, üppige Süßigkeiten aus Kastanien, gesalzenen Fisch und Sushi, der Geruch nach gegrilltem Fisch über den Holzkohleöfchen. Straßenleben, das heißt von Schuhputzern angesprochen zu werden, von Blumenverkäufern, Straßenkünstlern, Kundenfängern für die Bars, es bedeutet Gerüche und Geräusche.
    Ausländer durften nicht fraternisieren. Sie durften die Wohnung von Japanern nicht betreten und in kein japanisches Restaurant gehen. Aber auf den Straßen waren sie Teil einer geräuschvollen, sich drängelnden Welt.
    Iggie hatte ein Aktenköfferchen voller Elfenbeinmönche, -handwerker und -bettler, aber er wusste nichts über dieses Land.
     
    Kodachrome
     
    Iggie erzählte mir, er habe vor seiner Ankunft nur ein einziges Buch über Japan gelesen, »The Chrysanthemum and the Sword: Patterns of Japanese Culture« (»Chrysantheme und Schwert: Formen der japanischen Kultur«); er hatte es unterwegs in Honolulu gekauft. Geschrieben hatte es die Ethnographin Ruth Benedict auf Ersuchen des American Office of War Information; es bestand aus Zeitungsausschnitten, übersetzten Literaturzitaten und Interviews mit Internierten. Seine Lesbarkeit verdankt sich vielleicht dem Umstand, dass Ruth Benedict keine direkte Erfahrung mit Japan hatte. Das Buch beschreibt eine angenehm simple Polarität zwischen dem Samuraischwert der Selbstverantwortung und der Chrysantheme, die nur durch verborgene Drähte ihre ästhetische Form erhält. Ihre berühmte These, die Japaner hätten eher eine Kultur der Scham als eine Kultur der Schuld, war bei den amerikanischen Offizieren in Tokio, die die Umgestaltung der japanischen Erziehung, des Rechtswesens und des politischen Systems planten, sehr einflussreich. Benedicts Buch wurde 1948 ins Japanische übersetzt und war außerordentlich populär. Natürlich. Was konnte spannender sein, als zu lesen, wie Amerikaner Japan sahen? Noch dazu eine Frau.
    Iggies Exemplar des Benedict-Buches liegt vor mir, während ich dies schreibe. Seine akribischen Bleistiftanmerkungen - meist Ausrufezeichen - hören siebzig Seiten vor den letzten Kapiteln auf, die sich mit Selbstdisziplin und Kindheit befassen. Vielleicht war sein Flugzeug gelandet.
    Iggies erstes Büro war im Geschäftsviertel Marunouchi mit seinen öden breiten Straßen. Im Sommer wurde es grässlich heiß, er erinnerte sich aber vor allem an die Kälte, die in seinem ersten Winter dort herrschte. In jedem Büro stand ein kleiner hibachi, ein Holzkohleofen, aber solche Öfchen spenden nur einen Hauch Wärme. Man müsste sie schon unter die Jacke stecken, um den Unterschied zu spüren.
    Draußen ist es Nacht. Der Lichtschein aus den Büros dringt bis zur Feuertreppe hinaus. Die Köpfe über die Schreibmaschinen gebeugt, die Ärmel ihrer weißen Hemden zweimal hochgekrempelt, sind diese jungen Männer eifrig mit dem japanischen Mirakel beschäftigt. Zwischen den Papieren liegen Zigaretten und Abakusse. Die Männer sitzen auf Drehstühlen. Iggie steht abseits, hält ein Bündel Papiere; Mattglasscheiben, ein Telefon (eine Seltenheit).
    Im Büro weiß man, dass es Abend wird, wenn Iggie kurz vor fünf den Gang hinunter entschwindet. Zum Rasieren braucht man heißes Wasser, also erhitzt er den Kessel auf dem hibachi im Büro. Und er muss sich rasieren, bevor er ausgeht.
    In seinem Hotel in jenem Denver-ähnlichen Teil Tokios hatte es Iggie gar nicht gefallen, und so war er binnen Wochen in sein erstes eigenes Haus gezogen. Es lag in Senzoku am Senzoku-See im Südosten der Stadt. Eigentlich war es mehr ein Teich, sagte er mir, ein großer Thoreau-Teich, das war ihm wichtig zu betonen, kein kleiner englischer Weiher. Er zog im Winter um; man hatte ihm von den Kirschbäumen erzählt, die im Garten und am Ufer wuchsen, aber auf die Wirkung, als dann der Frühling kam, war er dann doch nicht vorbereitet. Wochenlang entfaltete sich das Schauspiel vor seinen Augen, bis zu einer solchen Überfülle an Blüten, dass es wie eine blendend weiße Wolke vor der Netzhaut war, sagte er. Kein Vordergrund mehr, kein Hintergrund, keine Distanz, man schwebte.
    Nach so vielen Jahren, in denen er aus einem oder zwei Koffern gelebt hatte, war

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