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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Mahut, um sie zu leiten«
     
    Noch kommen die Netsuke nicht ins Spiel. Charles in seinen Zwanzigern ist immer unterwegs, auf der Fahrt nach irgendwohin, aus London, Venedig, München sendet er Grüße, entschuldigt sich, weil er Familientreffen versäumt. Er hat ein Buch über Dürer begonnen, den Künstler, für den er in den Wiener Sammlungen eine Neigung fasste, und er muss jede Zeichnung aufspüren, jedes Gekritzel in irgendeinem Archiv, um ihm gerecht werden zu können.
    Seine beiden älteren Brüder haben es sich in ihrer eigenen Welt eingerichtet. Jules führt mit seinen Onkeln das Steuerruder von Ephrussi et Cie in der Rue de l’Arcade. Seine frühe Ausbildung in Wien macht sich bezahlt, es stellt sich heraus, dass er ein sicheres Gespür für Geldangelegenheiten hat. In der Synagoge in Wien hat er Fanny geheiratet, die kluge, sarkastische junge Witwe eines Wiener Finanzmagnaten. Sie ist sehr reich, alles der Dynastie angemessen. In den Pariser und Wiener Blättern heißt es, er habe jede Nacht mit ihr getanzt, bis sie es müde wurde, nachgab und ihn heiratete.
    Ignaz hat sich absentiert. Er hat ein Faible dafür, sich immer wieder spektakulär zu verlieben. Eine Spezialität dieses amateur de femmes ist es, zu einem Rendezvous Hauswände empor und durch Fenster zu klettern - in den Memoiren mancher älterer Damen der Gesellschaft finde ich manchmal Erwähnung davon. Er ist ein mondain, ein Pariser Mann von Welt, sein Leben eine Abfolge von Liebesaffären, Abenden im Jockey-Club - das Epizentrum für Junggesellen der besseren Gesellschaft - und Duellen. Das ist zwar illegal, füllt aber die Zeit wohlhabender junger Männer und Armeeoffiziere aus, die wegen nichtigster Überschreitungen des Ehrenkodex zum Degen greifen. Ignaz wird in den Duellhandbüchern jener Zeit erwähnt; eine Zeitung berichtet von einem Vorkommnis, als er bei einer Auseinandersetzung mit seinem Privatlehrer beinahe ein Auge einbüßt. Ignaz ist »zwar nicht klein, doch ein wenig unter Durchschnittsgröße … Er ist mit Energie begabt, die glücklicherweise durch stählerne Muskeln unterstützt wird … Monsieur Ephrussi ist einer der begabtesten … zudem einer der zuvorkommendsten und freimütigsten Fechter, die ich kenne.«
    Hier ist er zu sehen, nonchalant mit einem Degen posierend, wie die Hilliard-Miniatur eines elisabethanischen Höflings: »Ein ausdauernder Sportsmann, frühmorgens ist er im Wald zu sehen auf einem prächtigen Apfelschimmel; seine Fechtstunde hat er bereits absolviert …« Ich stelle mir Ignaz vor, wie er in den Stallungen in der Rue de Monceau die Steigbügel festzurrt. Beim Reiten ist sein Pferd in »russischer Manier« ausstaffiert. Ich bin mir nicht ganz sicher, was das sein soll, aber prächtig klingt es.
    In den Salons tritt Charles erstmals ins Licht der Öffentlichkeit. Der scharfzüngige Romancier, Tagebuchschreiber und Sammler Edmond de Goncourt erwähnt ihn in seinem Tagebuch. Dass Leute wie Charles überhaupt in Salons eingeladen wurden, fand der Romancier abstoßend; die Salons seien von »Juden und Jüdinnen verseucht«. Er äußert sich über diese neuen jungen Männer, denen er begegnet; diese Ephrussi seien »mal eleves«, schlecht erzogen, und »insupportables«, unerträglich. Charles, lässt er durchblicken, sei allgegenwärtig, das deute auf einen Menschen hin, der seinen Platz nicht kenne; hungrig nach Kontakten, wisse er nicht, wie er seinen Eifer bemänteln und unsichtbar werden solle.
    Goncourt ist eifersüchtig auf den charmanten jungen Mann mit dem unmerklichen Akzent. Charles hat es scheinbar mühelos in die formidablen eleganten Salons jener Zeit geschafft, jeder ein Minenfeld heißumkämpfter Zonen politischen, künstlerischen, religiösen und aristokratischen Geschmacks. Es gab viele davon; die drei wichtigsten waren der von Madame Straus (Bizets Witwe), der Gräfin Greffulhe und jener der vergeistigten Madame Madeleine Lemaire, die Blumenaquarelle malte. Ein Salon, das war ein Empfangszimmer mit regelmäßig geladenen Gästen, die sich zu festgesetzten Zeiten am Nachmittag oder abends trafen. Dichter, Dramatiker, Maler, »Clubmen«, Weltmänner begegneten einander unter der Schirmherrschaft einer Gastgeberin, um sich über Tagesthemen zu unterhalten, Klatsch zu verbreiten, Musik zu hören oder ein neues Gesellschaftsporträt enthüllt zu sehen. Jeder Salon hatte seine eigene, besondere Atmosphäre und seine Jünger: Wer Madame Lemaire ärgerte, der war ein »Langweiler« oder

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