Der Hase mit den Bernsteinaugen
»Abtrünniger«.
Madame Lemaires Donnerstagssalon wird in einem frühen Essay des jungen Marcel Proust erwähnt. Er beschwört den Duft nach Lilien herauf, der ihr Atelier erfüllt und hinausweht in die Rue de Monceau, wo dicht an dicht gedrängt die Kutschen der Beau Monde stehen. An einem Donnerstag kommt man in der Rue de Monceau kaum voran. Proust bemerkt Charles. Es herrscht Stimmengewirr, er bewegt sich durch das Gedränge an Schriftstellern und Gesellschaftslöwen zu ihm hin. Charles steht in einer Ecke und unterhält sich mit einem Porträtmaler, sie haben die Köpfe gesenkt, ihre Unterhaltung verläuft so leise und intensiv, dass Proust, obwohl er sich in der Nähe herumdrückt, kein Fünkchen ihrer Konversation mitbekommt.
Der unwirsche Goncourt ist besonders erbost darüber, dass der junge Charles ein Vertrauter seiner Prinzessin Mathilde geworden ist, der Nichte Napoleons. Sie wohnt in der Nähe, in einem riesigen Schloss in der Rue de Courcelles. Er gibt den Klatsch weiter, sie sei in Charles’ Haus in der Rue de Monceau gesehen worden, zusammen mit dem gratin, der Oberschicht der Aristokratie; die Prinzessin habe in Charles einen »Mahut« gefunden, »der sie durchs Leben leitet«. Ein unvergessliches Bild: die imposante alte, in Schwarz gewandete Prinzessin, eine elefantenhafte Erscheinung, etwa wie Königin Victoria, und der junge Mann in seinen Zwanzigern, der sie mit der leisesten Andeutung oder Berührung lenken kann.
Charles beginnt in dieser komplexen, snobistischen Stadt für sich einen Platz zu finden. Er entdeckt allmählich die Orte, wo man seine Konversation schätzt, wo sein Judentum entweder akzeptiert wird oder ohne Bedeutung ist. Als junger Kunstschriftsteller besucht er jeden Tag die Büros der Gazette des Beaux-Arts in der Rue Favart - und nimmt dabei noch sechs, sieben Salons mit, setzt der allwissende Goncourt hinzu. Vom Familienhaus zu den Verlagsräumen sind es genau fünfundzwanzig Minuten, wenn man rasch geht, oder an meinem Aprilmorgen fünfundvierzig Minuten im Flaneurstempo. Charles mag in der Kutsche gefahren sein, geht mir durch den Kopf, aber das kann ich zeitlich nicht nachvollziehen.
Die Gazette, der Courrier Europeen de l’art et de la curiosite, hat einen kanariengelben Umschlag, auf dem Titelblatt ist über einem antiken Grabmal eine malerische Anordnung von Renaissance-Artefakten zu sehen, darüber ein grimmig dreinblickender Leonardo. Für sieben Francs bekommt man Besprechungen der verschiedenen Ausstellungen geliefert, die in Paris um Aufmerksamkeit buhlen, die Exposition des Artistes Independants, die offiziellen Salons, vom Boden bis zur Decke mit Bildern behängt, die Übersichtsausstellungen im Trocadero und im Louvre. Hämisch wird sie als »eine teure Kunstzeitschrift« beschrieben, »die jede große Dame aufgeschlagen, doch ungelesen« auf ihrem Tisch liegen habe, und sie hat auch wirklich einen bestimmten Ruf als unverzichtbarer Bestandteil des Gesellschaftslebens, eine Mischung aus World of Interiors und Apollo. In der schönen ovalen Bibliothek des Hotel Camondo etwas abwärts vom Hotel Ephrussi stehen ganze Regale voll mit den gebundenen Jahrgängen.
In den Verlagsräumen trifft man Schriftsteller und Künstler, dazu gibt es die beste Kunstbibliothek von Paris, mit Zeitschriften aus ganz Europa und Ausstellungskatalogen. Es ist ein exklusiver Kunstclub, ein Ort, wo man Neuigkeiten austauschen und darüber schwatzen kann, welcher Künstler an welchem Auftrag arbeitet, wer bei den Sammlern oder den Jurymitgliedern der Salons nicht mehr gut angeschrieben ist. Zudem geht es geschäftig zu. Die Gazette erscheint monatlich, und so wird hier auch fleißig gearbeitet. Entscheidungen müssen getroffen werden, wer über welches Thema schreiben soll, Stiche und Abbildungen müssen bestellt werden. Hört man den Debatten zu, kann man hier Tag für Tag eine Menge lernen.
Als Charles, eben zurückgekehrt von seinen Streifzügen bei den italienischen Kunsthändlern, für die Gazette zu schreiben beginnt, befasst er sich mit aufwendigen Gravüren der gerade neuesten Bilder, mit Artefakten, die in den wissenschaftlichen Besprechungen erwähnt werden, und mit Schlüsselwerken der Salons, die in sorgfältigen Reproduktionen abgebildet sind. Ich nehme auf gut Glück ein Heft aus dem Jahr 1878 zur Hand. Es bringt unter anderem Artikel über spanische Tapisserien, archaische griechische Skulpturen, die Architektur des Champ de Mars und über Gustave Courbet - alle
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