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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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die beiden Familien fuhren oft gemeinsam ins Chalet Ephrussi in der Schweiz oder ins Schloss der Cahen d’Anvers in Champssur-Marne, etwas außerhalb von Paris, in die Ferien. Was sah die Etikette vor, wenn man seiner Freundin begegnete, die gerade die Treppen zur Wohnung des Schwagers hinaufging? Das Liebespaar mag die Hinterzimmer eines Händlers nötig gehabt haben, um der drückenden, allwissenden Liebenswürdigkeit zu entfliehen. Und den Kindern.
    Charles, dieser zunehmend erfahrene und entgegenkommende junge Salonlöwe, vermittelte einen Auftrag für seinen Bekannten Leon Bonnat, ein Pastellporträt Louises. Sie ist in einem hellen Kleid abgebildet, blickt züchtig zu Boden. In Wirklichkeit war Louise alles andere als züchtig. Goncourt beschreibt sie mit dem Auge des Romanciers am Samstag, dem 28. Februar 1876, in ihrem Salon: »Die Juden besitzen von ihrer orientalischen Abstammung her eine besondere Nonchalance. Heute beobachtete ich entzückt Madame Cahen, die mit träge-katzenhaften Bewegungen in ihrer Vitrine voller Porzellan- und Lackgegenstände herumfischte und mir einige in die Hand drückte. Und wenn sie blond sind, diese Juden, dann ist an diesem Blond etwas Goldenes, wie auf dem Porträt der Mätresse des Tizian.
    Als die Suche beendet war, ließ sich die Jüdin auf eine Chaiselongue fallen; den Kopf zur Seite gewandt, ließ sie einen Haarknoten sehen, der einem Natternnest glich; das Gesicht verziehend, amüsiert, fragend, die Nase gekräuselt, beklagte sie sich über das Ansinnen der Männer und Romanschreiber, Frauen seien keine menschlichen Wesen und kennten in der Liebe nicht denselben Überdruss, denselben Ekel wie die Männer.«
    Es ist ein unvergessliches Bild erotisierten Schmachtens; die Mätresse des Tizian ist tatsächlich sehr golden, sehr nackt, und bedeckt ihre Blöße mit einer locker darübergelegten Hand. Man spürt Louises Macht über den berühmten Schriftsteller, man spürt, wie sie Herrin der Lage ist. Immerhin ist sie La muse alpha für Paul Bourget, einen weiteren bekannten Schriftsteller jener Tage. In dem Porträt, das sie für ihren eigenen Salon bei Carolus-Duran, dem modischen Gesellschaftsmaler von damals, in Auftrag gibt, birst sie fast aus ihrem schwingenden Kleid, die Lippen leicht geöffnet. In dieser Muse steckt allerhand Dramatik. Es würde mich interessieren, warum sie diesen jungen Ästheten als Liebhaber wollte.
    Es mag Charles’ Mangel an Theatralik gewesen sein, die bedächtige Art des Kunsthistorikers. Oder vielleicht lag es daran, dass sie zwei riesige Haushalte hatte, einen Ehemann und eine Schar Kinder, während Charles ohne Verpflichtungen war und immer frei, sie zu unterhalten, wenn sie Ablenkung brauchte. Sicher teilte das Liebespaar ein echtes Interesse für Musik, Kunst und Literatur - und für Musiker, Künstler und Dichter. Louises Schwager Albert war Komponist, Charles und Louise gingen mit ihm in die Oper und zu den radikaleren Premieren in Brüssel, um Massenet zu hören. Sie waren beide leidenschaftliche Wagnerianer, eine Leidenschaft, die man schwer simulieren, aber leicht teilen kann. Ich könnte mir vorstellen, dass Wagner-Opern dem Paar in einer der tiefen, plüschigen Logen der Oper genügend Zeit füreinander gestatteten. Sie waren bei einem kleinen, auserlesenen Diner zugegen (ohne Ehemann), gefolgt von einer Lesung von Anatole France; Gastgeber war Proust.
    Und sie kaufen miteinander schwarz-goldene japanische Lackschatullen für ihre beiden Sammlungen: Ihre Liebesaffäre beginnt mit Japan.
    Mit Louise, der Streitereien mit ihrem Ehemann oder Charles überdrüssig, lässig in ihrer Vitrine mit japanischen Lacknippes herumkramend, dann auf ihre Chaiselongue hingestreckt, komme ich den Netsuke näher, das spüre ich. Sie werden deutlicher, Teil eines komplexen, zersplitterten Pariser Lebens, das real existierte.
    Ich möchte herausfinden, wie diese beiden nonchalanten Pariser, Charles und seine Geliebte, mit japanischen Dingen umgegangen sind. Wie es war, etwas so Fremdartiges zum ersten Mal in der Hand zu halten, ein Kästchen hochzunehmen, eine Schale - oder ein Netsuke - aus einem Material, das man nie zuvor gespürt hatte, es zu drehen, sein Gewicht und seine Ausgewogenheit zu spüren, mit den Fingerspitzen über ein plastisches Ornament zu streichen, einen Storch, der durch Wolken fliegt. Es muss irgendwo eine Literatur der Berührung geben, denke ich; irgendjemand muss in einem Tagebuch oder einem Brief etwas von diesem

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