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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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man von »britischem Neid, französischer Rachgier, russischer Raublust«. Monat für Monat schwinden die Reisemöglichkeiten, das Familiennetzwerk funktioniert nicht mehr. Briefe kommen, aber man kann die englischen und französischen Verwandten nicht treffen, kann nicht reisen wie früher.
    Im Sommer kann die Familie das Chalet Ephrussi in Luzern nicht besuchen; also fährt man in den langen Sommerferien nach Kövecses. Das bedeutet, dass sie wenigstens ordentlich zu essen haben. Es gibt Hasenbraten, Wildpastete und Zwetschkenknödel mit Schlagobers. Im September findet eine Jagdpartie statt, bei der Verwandte, auf Urlaub vom Schießen an der Front, Fasane abknallen.
    Am 26. Oktober wird Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh im Restaurant Meissl & Schaan in der Kärntner Straße ermordet. Zwei Umstände erregen allgemeines Interesse. Erstens, sein Mörder ist der radikale Sozialist Fritz Adler, Sohn des Führers der Sozialdemokraten, Viktor Adler. Zweitens, er hatte Pilzsuppe, gekochtes Rindfleisch mit Wurzelgemüse und Nachspeise gegessen. Und dazu einen Gespritzten getrunken. Es gibt noch einen weiteren Punkt, der die Kinder sehr interessiert: In ebendiesem Restaurant haben sie im Sommer mit den Eltern Ischler Torte gegessen, einen Schokoladekuchen mit Mandel-Kirschfüllung.
    Am 21. November 1916 stirbt Franz Joseph I.
    Die Zeitungen erscheinen mit schwarzem Trauerrand: »Tod unseres Kaisers«, »Kaiser Franz Joseph tot!« In einigen sind Stiche des Herrschers mit seinem charakteristischen misstrauischen Blick zu sehen. In der Neuen Freien Presse erscheint kein Feuilleton. Die Wiener Zeitung hat die graphisch ansprechendste Lösung gefunden: eine Todesanzeige auf einer weißen Seite. Die Wochenzeitungen folgen diesem Beispiel, außer Die Bombe, sie bringt das Bild eines Mädchens, das im Bett von einem Mann überrascht wird.
    Franz Joseph war sechsundachtzig und saß seit 1848 auf dem Thron. An einem winterlich kalten Tag zieht der riesige Trauerzug durch Wien. An den Straßen bilden Soldaten Spalier. Der Sarg steht auf einem von acht Pferden mit schwarzem Federkopfschmuck gezogenen Trauerwagen. Links und rechts marschieren bejahrte Erzherzöge, die Brust medaillengeschmückt, und die Vertreter der kaiserlichen Garden. Hinter ihnen gehen der junge neue Kaiser Karl und seine Frau Zita im bodenlangen Schleier, zwischen ihnen ihr vierjähriger Sohn Otto in Weiß mit schwarzer Schärpe. Das Requiem findet im Stephansdom statt, die Könige von Bulgarien, Bayern, Sachsen und Württemberg sind anwesend, fünfzig Erzherzöge und -herzoginnen, vierzig weitere Prinzen und Prinzessinnen. Der Trauerzug schlängelt sich bis zur Kapuzinerkirche am Neuen Markt unweit der Hofburg. Das Ziel ist die Kaisergruft, dort wird Franz Joseph zwischen seiner Frau Elisabeth und seinem lange verstorbenen Sohn, dem Selbstmörder Rudolf, beigesetzt.
    Die Kinder dürfen mit den Eltern zu Meissl & Schadn an der Ecke der Kärntner Straße, dort, wo sie den köstlichen Kuchen gegessen haben, und können den Trauerzug von einem Fenster im ersten Stock aus betrachten. Es ist sehr kalt.
    Viktor erinnert sich an den Makart-Festzug siebenunddreißig Jahre zuvor, mit den Schlapphüten und den Federn; er erinnert sich, wie sein Vater vor sechsundvierzig Jahren in den Adelsstand erhoben wurde. Eine Generation ist es her, seit Franz Joseph die Ringstraße, die Votivkirche, das Parlament, die Oper, das Rathaus, das Burgtheater eröffnet hat.
    Die Kinder denken an all die anderen Prozessionen, denen der Kaiser beiwohnte, die zahllosen Male, die sie ihn in seiner Kutsche in Wien und in Bad Ischl gesehen haben. Sie erinnern sich, wie er mit Frau Schratt, seiner Freundin, ausgeritten ist, wie sie ihnen zugewinkt hat, eine sachte Geste mit der behandschuhten Rechten. Sie erinnern sich an den Familienscherz nach den Besuchen bei der grantigen Tante Anna von Hertenried, der Hexe. Wenn man glücklich ihr und ihrer Ausfragerei entronnen ist, muss man den stereotypen Spruch des Kaisers wiederholen: »Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut«, bevor jemand anderer ihn sagen kann.
    Anfang Dezember findet im Ankleidezimmer ein wichtiger Termin statt. Elisabeth darf zum ersten Mal den Stil ihrer Kleidung bestimmen. Bis jetzt wurden ihr viele Kleider geschneidert, aber nun darf sie selbst eine Entscheidung treffen. Diesen Moment haben Emmy, Gisela und Iggie, die sich alle sehr für Mode interessieren, mit Spannung erwartet, ebenso Anna, die die Kleider in Ordnung

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