Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
Vom Netzwerk:
hält. Im Ankleidezimmer liegt auf der Frisierkommode ein Buch mit Stoffproben; Elisabeth hat die Idee zu einem Kleid mit einem Spinnennetzmuster am Oberteil.
    Iggie ist entsetzt. Siebzig Jahre später in Tokio erzählte er, wie damals Stille herrschte, als Elisabeth beschrieb, was sie wollte: »Sie hatte einfach überhaupt keinen Geschmack.«
    Am 17. Januar 1917 ergeht ein neues Edikt, in dem angekündigt wird, dass die Namen verurteilter Kriegsgewinnler in Zeitungen und an Anschlagtafeln im jeweiligen Heimatbezirk veröffentlicht werden sollen. Man weiß von Bestrebungen, den Pranger wiedereinzuführen. Es gibt verschiedene Namen für Kriegsgewinnler, aber sie rinnen allmählich in einen zusammen: Hamsterer, Schieber, Ostjude, Galizier, Jude.
    Im März verkündet Kaiser Karl die Einführung eines neuen schulfreien Tages am 21. November, zur Erinnerung an den Tod Franz Josephs und seine eigene Thronbesteigung.
    Im April geht Emmy zu einem Empfang für ein Frauenkomitee in Schönbrunn, sie organisieren irgendetwas für die Witwen von Soldaten, die bei der Verteidigung der Monarchie gefallen sind. Mir ist nicht ganz klar, worum es sich dabei gehandelt hat. Aber es existiert eine prächtige Fotografie dieser Versammlung von hundert Frauen im Sonntagsstaat im Ballsaal, ein weitgespannter Bogen Hüte vor Rokokostuck und Spiegeln.
    Im Mai findet in Wien eine Ausstellung von 180000 Zinnsoldaten statt. Den Sommer über gibt sich die Stadt heldenhaft. Das ganze Jahr erscheinen die Zeitungen mit weißen Stellen, wo die Zensoren Informationen oder Kommentare zu beanstanden hatten.
    Der Gang zwischen Emmys Ankleidezimmer, dem Raum mit den Netsuke, und Viktors Ankleidezimmer scheint immer länger zu werden. Manchmal erscheint Emmy um ein Uhr nicht am Esstisch, ein Mädchen räumt ihr Gedeck weg, während die anderen so tun, als bemerkten sie nichts. Manchmal wird es auch um acht Uhr abends weggenommen.
    Die Lebensmittelversorgung ist ein zunehmendes Problem. Seit zwei Jahren bilden sich Schlangen um Brot, Milch und Kartoffeln, jetzt aber muss man auch um Kohl, Zwetschken und Bier anstehen. Die Hausfrauen werden ermahnt, erfinderisch zu sein. Kraus stellt sich eine tüchtige teutonische Ehefrau vor: »Heut waren wir in diesem Punkte gut versorgt. Es gab allerlei. Wir hatten da eine bekömmliche Brühe aus Hindenburg-Kakao-Sahne-Suppenwürfel >Exzelsior<, einen schmackhaften Falschen Hasen-Ersatz mit Wrucken-Ersatz, Kartoffelpuffer aus Paraffin …«
    Die Münzen wechseln. Vor dem Krieg wurden Goldkronen oder Silberkronen geprägt; nach drei Kriegsjahren sind sie aus Kupfer. In diesem Sommer sind sie aus Eisen.
    Kaiser Karl erhält in der jüdischen Presse begeisterten Zuspruch. Die Juden, heißt es in Bloch’s Wochenschrift, seien nicht nur die treuesten Unterstützer seines Reiches, sondern die einzigen bedingungslosen Österreicher.
    Den Sommer 1917 verbringt Elisabeth mit ihrer besten Freundin Fanny in Altaussee im Landhaus der Baronin Oppenheimer. Fanny Löwenstein hat ihre Kindheit in verschiedenen europäischen Ländern verbracht und spricht dieselben Fremdsprachen wie Elisabeth. Sie sind beide siebzehn und sehr poesiebegeistert: Ununterbrochen sind sie am Schreiben. Ganz aufgeregt sind sie, weil der Dichter Hugo von Hofmannsthal und der Komponist Richard Strauss ebenfalls eingeladen sind, so wie Hofmannsthals zwei Söhne. Unter den anderen Gästen ist der Historiker Joseph Redlich, der, so Elisabeth sechzig Jahre später, »uns sehr missfiel, weil er eine Niederlage Österreichs und Deutschlands voraussagte, während Fanny und ich immer noch an die offiziellen Verlautbarungen eines siegreichen Endes glaubten«.
    Im Oktober behauptet die Reichspost, es existiere eine internationale Verschwörung gegen Österreich-Ungarn, und Lenin, Kerenski und Lord Northcliffe seien alle Juden. Präsident Woodrow Wilson handle ebenfalls »unter dem Einfluss« der Juden.
    Am 21. November, dem Jahrestag von Franz Josephs Tod, haben alle Schulkinder frei.
    Anfang 1918 wird die Lage bereits sehr schwierig. Emmy laut Kraus in der Fackel »blendender Mittelpunkt eines vornehmen Gesellschaftskreises«, ist blendender denn je zuvor. Sie hat einen neuen Liebhaber, einen jungen Grafen, der in einem Kavallerieregiment dient. Er ist ein Sohn von Freunden der Familie, regelmäßig zu Gast in Kövecses, wohin er seine eigenen Pferde mitbringt. Er sieht außerordentlich gut aus und ist Emmy im Alter viel näher als Viktor.
    Im Frühjahr erscheint ein

Weitere Kostenlose Bücher