Der Hauch Des Bösen: Roman
als Ehefrau. Sie hatte zwar auf diesem Sektor einiges gelernt und kam ihrer Meinung nach inzwischen mit dieser Rolle recht gut klar. Ihr momentanes Vorgehen allerdings war neu.
Was, wenn er sie nicht in Irland haben wollte? Was, wenn alles nur noch schlimmer wurde, indem sie ihn dort so überfiel?
Sie schob eine Diskette in ihren Handcomputer und spielte noch einmal die Nachricht ab, die er auf ihrem Link zu Hause hinterlassen hatte, während sie noch auf dem Revier gewesen war.
»Tja, ich hoffe, dass du schläfst.« Er lächelte, aber
er wirkte furchtbar müde, dachte sie. Regelrecht erschöpft. »Ich hätte mich früher bei dir melden sollen. Die Sache ist ein wenig... kompliziert. Ich werde gleich selber schlafen gehen. Hier ist es schon sehr spät. Oder eher früh. Ich kann mich nicht erinnern, wie groß die Zeitverschiebung ist - kannst du dir das vorstellen? Tut mir leid, dass ich heute - gestern - ach verdammt - nicht mit dir gesprochen habe.«
Er stieß ein halbes Lachen aus und kniff sich in die Nase, als verspüre er dort irgendeinen Druck. »Ich bin ziemlich groggy und brauche ein paar Stunden Schlaf. Mit mir ist alles in Ordnung, mach dir also keine Sorgen. Hier ist alles völlig anders als erwartet. Auch wenn ich nicht sagen kann, was ich erwartet habe. Ich rufe wieder an, wenn ich geschlafen habe. Arbeite nicht zu hart, Lieutenant. Ich liebe dich.«
Er sollte nicht so müde aussehen, dachte sie, plötzlich erbost. Und es war effektiv nicht richtig, dass er so verwirrt, so schrecklich verletzlich war.
Selbst wenn es ihm nicht passte, dass sie nach Irland käme, müsste er sich halt damit arrangieren. Punkt.
Das erste morgendliche Dämmerlicht fiel sanft schimmernd über die Hügel, als Roarke vor die Haustür trat. Er hatte zwar nur kurz, aber erstaunlich gut geschlafen, in einem hübschen Zimmer unter dem Dach mit einer schrägen Holzdecke, alten Spitzengardinen vor den Fenstern und einem wunderschönen, handgemachten Quilt auf dem breiten Eisenbett.
Sie hatten ihn behandelt wie ein Mitglied der Familie. Beinahe wie den verlorenen Sohn, der endlich heimgekommen war, und hatten ihm als irische Version
des gemästeten Kalbes köstlichen Ziegenbraten und Kartoffelbrei serviert.
Sie hatten ein Fest gefeiert mit jeder Menge Essen, Musik und Geschichten, und Menschen, unzählige Menschen hatten sich um ihn versammelt, von seiner Mutter gesprochen, nach seinem eigenen Werdegang gefragt, gelacht und geweint.
Ihm war nicht klar gewesen, was er von der ganzen Sache und von diesen Horden von Leuten halten sollte, die mit einem Mal ein Teil seines Lebens waren.
Die Wärme, mit der Onkels, Tanten, Vettern, Basen und - um Himmels willen - Großvater und Großmutter ihn empfangen hatten, hatte ihn regelrecht umgehauen.
Er war noch immer etwas aus dem Gleichgewicht. Dieses Leben, das sie führten, und die Welt, in der sie lebten, waren ihm fremder als der Mond. Und trotzdem hatte er, wenn auch bisher unbewusst, einen Teil davon in seinen Genen.
Wie sollte er sich innerhalb von ein paar Tagen mit einem derart grundlegenden Wandel seiner eigenen Geschichte arrangieren? Wie sollte er mit einem Mal die Wahrheit, die doch über dreißig Jahre unter lauter Lügen und hinter einem Tod versteckt gewesen war, verstehen?
Die Hände in den Jackentaschen lief er durch den Garten mit den ordentlichen Gemüsebeeten und wild wuchernden, leuchtend bunten Blumen und strich mit den Fingern über einen kleinen grauen Knopf.
Den Knopf seiner Frau. Den Knopf, der an dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, von der Jacke eines ausnehmend hässlichen Kostüms gefallen
war. Den Knopf, den er seither ständig als Glücksbringer bei sich trug.
Sicher ginge es ihm besser, wenn sie in der Nähe wäre. Gott, er wünschte, sie wäre da.
Er blickte über ein Feld, auf dem ein Traktor entlangrumpelte. Sicher wurde er von einem seiner Onkel oder Cousins gelenkt. Er stammte von Bauern ab, war das nicht höchst erstaunlich?
Von einfachen, grundehrlichen, hart arbeitenden Menschen. Sicher waren sie gottesfürchtig und wiesen all die anderen Eigenschaften auf, die seiner anderen Hälfte fehlten. War es womöglich genau dieser Konflikt, dieser Widerspruch, der ihn zu dem Menschen machte, der er war?
Die Luft und das Licht waren noch weich von dem frühmorgendlichen Nebel, der über den grünen Wiesen aufstieg. Unvermittelt dachte er an eine Gedichtzeile von Yeats - Wo Hügel sich auf Hügel türmt . Genauso war es hier.
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