Der Heilige Krieg
Staatengemeinschaft verhängte Sanktionen gegen das Land,
das sich zunehmend isolierter sah. In dieser schicksalhaften Situation suchten die Sudanesen nach einem Ausweg – und brachten Bin Laden ins Spiel. Sie wären bereit, ihn nach Saudi-Arabien auszuweisen, so die Unterhändler. Doch die Saudis waren nicht hinter ihm her und folglich auch nicht an ihm interessiert. Genauso sahen es die USA – es gebe bislang keine Beweise, dass er US-Bürgern Schaden zugefügt habe. Wohl aber forderten sie die Sudanesen auf, Bin Laden des Landes zu verweisen.
»Das war ein Weckruf, den kaum jemand gehört hat. Die US-Regierung sah das Ganze als einmaligen Vorfall, der nicht wieder vorkommt. Vor allem als wir die Täter gefangen hatten. Das Problem der Amerikaner mit dem Terror ist, dass wir denken, die Gefahr sei gebannt, sobald jemand im Gefängnis sitzt.«
Michael Scheuer, ehemaliger
CIA-Antiterrorexperte
Aufbruch in eine Terrorkarriere
Auf dem Flughafen Khartum genossen Bin Laden, acht seiner engsten Getreuen sowie seine Söhne Omar und Saad Vorzugsbehandlung. Eine Pass- oder Zollkontrolle musste die kleine Reisegruppe an diesem 18. Mai 1996 nicht über sich ergehen lassen. Sie durften sogar ihre Waffen – Bin Laden trug wie stets eine kurze Version einer Kalaschnikow bei sich – behalten. Auf dem Rollfeld stand mit laufenden Motoren ein gecharterter kleiner Learjet – ein letzter Luxus, den die sudanesische Regierung Osama bin Laden zugestand. Das konnte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ihn aus dem Land warf. Bin Laden war schweigsam – dieser Tag war eine bittere Niederlage für ihn. Nur 50 000 Dollar blieben ihm beim Antritt dieser Reise, seine Unternehmen im Sudan waren beschlagnahmt worden, 20 bis 30 Millionen Dollar seines Kapitals von seinem »Gastland« eingezogen worden. Die Al-Qaida-Kämpfer, die er in seinen Lagern im Sudan ausgebildet hatte, musste er sang- und klanglos entlassen. Sie bekamen ein Flugticket nach Hause und 2400 Dollar in die Hand gedrückt. Seine Organisation war auf dem Tiefpunkt angelangt.
Bin Laden wusste, wem er diese schmachvolle Abschiebung zu verdanken hatte – den Amerikanern.
Nach einem Zwischenstopp im Iran und einigen Stunden Flug bemerkten die Passagiere beim Blick aus den Fenstern, dass sich unter ihnen die zahllosen Bergrücken des Hindukusch erstreckten – sie näherten sich Afghanistan. Bin Ladens Sohn Omar erinnert sich: »Mein Magen war flau vor Aufregung. Afghanistan war das Land, in dem mein Vater seine Kriegsjahre verbracht hatte. Seit ich klein war, war meine Fantasie beflügelt worden von den Geschichten über tödliche Kämpfe und die historischen Schlachten bei Dschadschi und Dschalalabad. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, diese Schlachtfelder zu sehen.« Sein Vater Osama dürfte die Ankunft in Dschalalabad hingegen mit gemischten Gefühlen erlebt haben. Niemand hatte ihn eingeladen – in Afghanistan waren Bürgerkrieg und Anarchie an der Tagesordnung, deswegen hatte auch niemand abgelehnt, ihn ins Land zu lassen. Einige Landesteile befanden sich mittlerweile unter Kontrolle der Taliban. Talib bedeutet »Schüler« – und das beschreibt, wo diese Bewegung ihren Ausgang genommen hatte. Ihnen war in pakistanischen Koranschulen eine fundamentalistische Auslegung des Koran eingebläut worden. Finanziert wurden diese Koranschulen, die »Medresen«, vom reichen Saudi-Arabien. Von Pakistan zogen die bewaffneten Koranschüler nach Afghanistan, um dort einen Gottesstaat zu etablieren. Viele der »Schüler« stammten von dort, der Afghanistankrieg hatte sie in die Flüchtlingslager Pakistans verschlagen. Ideologisch standen diese kämpferischen Islamisten Bin Laden durchaus nahe. Ihr Anführer, Mulla Omar, hatte sich zum »Herrscher aller Muslime« erklärt. Die Saudis baten ihn nun – gegen großzügige Hilfszahlungen –, ein Auge auf Bin Laden zu halten und ihn »ruhigzustellen«. Das war Omar recht. Er hielt Bin Laden noch immer für einen großzügigen islamistischen Philanthropen. Der zeigte sich im neuen Exil zunächst demütig und zog mit seinen Söhnen in die Berge von Tora Bora. Dort hatte er während des Krieges gegen die Sowjets schon einmal gehaust – in primitivsten Verhältnissen. Nun, im Jahr 1996, tat es Osama bin Laden – wie er selbst sagte – dem Propheten Mohammed gleich. Auch der hatte 622 ins Exil gehen müssen, von dort aus hatte er dann acht Jahre Krieg gegen seine Widersacher geführt. Diese »Hedschra« (»Auswanderung«) wurde
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