Der Heilige Krieg
islamistische Terrortruppe keine leeren Drohungen ausstieß. Das Bombenattentat von Nairobi war der erste Anschlag, der von Al-Qaida in Szene gesetzt wurde. Parallel zur Detonation in Nairobi gab es einen Anschlag auf die US-Botschaft in Daressalam in Tansania, elf Menschen starben, 85 wurden verletzt. Alle waren Afrikaner. Die öffentlichen Begründungen Al-Qaidas für diese Zielauswahl waren wirr – intern kalkulierte die Al-Qaida-Führung aber auf eine entschlossene amerikanische Reaktion: Die Amerikaner sollten zu einem Schlag gegen die Al-Qaida-Zentrale in Afghanistan provoziert werden. »Bin Laden wollte, dass die USA den gleichen Fehler begehen wie die Sowjetunion. Die Sowjets sind 1979 in Afghanistan einmarschiert und zehn Jahre dort geblieben. Mit welchem Ergebnis? Das Sowjetreich brach auseinander. Bin Laden dachte, dass er das Gleiche mit Amerika anstellen konnte. Dass er aus den Vereinigten Staaten die Gespaltenen Staaten machen konnte. Das sollte dem Islam seinen rechtmäßigen Platz als erste Macht in der Welt frei machen. Das war seine Strategie«, analysiert der US-Publizist Lawrence Wright. Und in der Tat reagierten die USA militärisch. Doch sie schickten keine Flugzeuge oder gar Soldaten nach Afghanistan, sondern 66 Marschflugkörper. Diese vermeintlich »chirurgischen« Schläge töteten in den getroffenen Ausbildungslagern sechs einfache Al-Qaida-Kämpfer. Die modernsten militärischen Mittel der einzigen Supermacht hatten einen minimalen Effekt gezeitigt. Dafür erschien Osama bin Laden nun in einem neuen Licht – die Amerikaner jagten ihn ab sofort als Staatsfeind Nr. 1. Er wurde von einer marginalen Figur in der arabischen Welt zu einer Berühmtheit. Fortan galt er als Verkörperung des islamischen Widerstands – im Nahen Osten hatten alle antiamerikanischen Kräfte nun einen neuen Helden. Dass er gerade erst Hunderte von Afrikanern hatte ermorden lassen, schien nicht mehr von Bedeutung.
Eine weitere verpasste Chance
Anfang 1999 hatten die US-Behörden, die hinter Bin Laden her waren, wichtige Informationen gesammelt. In der Wüste bei Kandahar sei ein Jagdausflug Bin Ladens mit Falknern und einigen Prinzen aus den Arabischen Emiraten geplant. Tatsächlich reisten die Prinzen mit großem Gefolge an – in der Wüste wurde ein riesiges Lager errichtet, das sogar auf US-Luftaufklärungsfotos sichtbar war. Der CIA-Analytiker Michael Scheuer, der sich auf Bin Laden spezialisiert hatte, trug noch mehr zusammen. Durch Kontaktleute in Pakistan erhielt er Informationen aus dem Jagdlager in Afghanistan – er wusste innerhalb einer Stunde, wo sich Bin Laden aktuell aufhielt. Über den CIA-Direktor George Tenet ließ er beim Sicherheits-berater von Präsident Clinton mehrmals anfragen, ob man nicht Marschflugkörper genau auf dieses bestens aufgeklärte Ziel lenken könne. Clintons Sicherheitsberater Clarke lehnte ab. Michael Scheuer musste frustriert zur Kenntnis nehmen, dass erneut eine Gelegenheit verstrich, Bin Laden direkt auszuschalten.
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Michael Scheuer, ehemaliger Antiterrorexperte der CIA.
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US-Botschaften in Afrika werden 1998 zum Ziel islamistischer Terroristen – die Masse der Opfer sind Afrikaner.
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Der Drahtzieher des Terrors macht aus seinen Plänen keinen Hehl und warnt die Amerikaner.
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Nach den Anschlägen in Nairobi und Daressalam erklären amerikanische Ermittler Osama bin Laden zum »Staatsfeind Nr. 1«.
»Wir hatten 1999 ein Dutzend Chancen, Osama bin Laden zu töten. Aber weil wir die Möglichkeiten nicht nutzten, verspielten wir die Chance, den Prozess, der zum Terroranschlag am 11. September 2001 führte, zu unterbrechen.«
Michael Scheuer, ehemaliger
CIA-Antiterrorexperte
Der große Schlag gegen Amerika
Seit Ende 1999 bereitete Al-Qaida eine Operation vor, die alle bis dahin durchgeführten Aktionen in den Schatten stellen sollte: einen großen Angriff auf amerikanischem Boden. Von diesen Plänen Al-Qaidas ahnten die Studenten Mohammed Atta, Ziad Jarrah, Marwan al-Shehhi und Ramzi bin al-Shibh im Herbst 1999 noch nichts. Die vier Männer arabischer Herkunft lebten seit Jahren in Deutschland, Mohammed Atta und Ziad Jarrah studierten an der Technischen Universität Hamburg. Doch das Leben in Europa hatte sie nicht weltoffener gemacht – im Gegenteil: Erst in Deutschland hatte sich zum Beispiel Mohammed Atta einem betont religiösen Lebensstil zugewandt. Zugleich äußerte er Verbitterung über die US-Politik im Nahen Osten, über
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