Der Heilige Krieg
türkischen Gäste das Bankett eröffnet. Drei Tage und Nächte dauert der Festschmaus.
Das prunkvolle Hochzeitsfest im Jahr 1346 hatte nur einen Schönheitsfehler (wie der Historiker Anthony Bryer annimmt): Der Bräutigam fehlte. Orhan, der Sohn des Dynastiegründers Osman, hielt es wohl nicht für nötig, bei der Trauung mit seiner neuen Hauptfrau persönlich anwesend zu sein, obwohl diese Vermählung einen Höhepunkt in seinem Leben und einen Wendepunkt in der osmanischen Geschichte markierte. Denn in dem Machtkampf, der unter den türkischen Beyliks um die Konkursmasse des Byzantinischen Reiches herrschte, besaß die familiäre Verbindung mit dem Kaiserhaus für Orhan unschätzbaren Wert. Seit längerer Zeit schon war Johannes VI. von der militärischen Macht der Osmanen abhängig, regelmäßig hatte er ihnen Tribut in Gold zu entrichten. Noch im Jahr zuvor hatte Orhan mit seinen Soldaten dem Kaiser aus der Klemme geholfen. Vielleicht sollte seine Abwesenheit vor Augen führen, wer in dieser Allianz das Sagen hatte.
Entschlossen beschritt Orhan weiter den Weg, den sein Vater eingeschlagen hatte. Mit militärischen und diplomatischen Mitteln vergrößerte er das osmanische Gebiet. Nach der Eroberung von Bursa machte Orhan die Stadt zum Regierungssitz des jungen Staates. Doch er regierte in erster Linie vom Pferderücken aus. Der marokkanische Weltreisende Ibn Battuta schrieb über Orhan: »Er hat die reichsten Schätze, die meisten Städte und Soldaten. Er besitzt beinahe hundert Festungen, die er ohne Unterbrechung aufsucht. Er bekämpft die Ungläubigen und belagert sie.«
»Koexistenz und Kompromiss zwischen verschiedenen Glaubensbekenntnissen und religiösen Praktiken ist eines der dauerhaften Motive der osmanischen Geschichte.«
Caroline Finkel, britische Historikerin und Turkologin
Bild 90
Orhan I. stellte die Weichen für die Zukunft. Stich aus dem 18. Jahrhundert.
Dass Orhan mit dem Schutzherrn der orthodoxen Christenheit verbündet war, erwähnte der Bericht allerdings nicht.
Seit seiner Hochzeit mit der Kaiserstochter mischte Orhan mehr denn je in den byzantinischen Angelegenheiten mit. 1352 errichteten die Osmanen einen Brückenkopf im europäischen Thrakien , um die kaiserlichen Truppen im byzantinischen Bürgerkrieg zu unterstützen. Zwei Jahre später eroberte Orhan den ersten europäischen Hafenort für die Osmanen: Gallipoli an den Dardanellen, der südwestlichen Einfahrt in das Marmarameer. Als aber der Kaiser verlangte, dass die osmanischen Truppen nach Anatolien zurückkehren, weigerte Orhan sich, seine europäischen Eroberungen aufzugeben. Der Balkan lockte mit wohlhabenden Städten, mit reichen Gold- und Silberminen – und mit der Aussicht auf »ungläubige« Gefangene. Denn anders als Muslime durften sie problemlos versklavt werden.
Als Orhan 1362 starb, waren die Weichen für die Zukunft gestellt. Die Herrschaft in Anatolien war gesichert, die Tür nach Europa stand offen. In einer Inschrift aus seinem Todesjahr ließ Orhan sich zum ersten Mal als »Sultan« (»Machthaber«) bezeichnen. Die Sultanswürde sollte den Machtanspruch der Osmanen artikulieren und ihren Anspruch auf politische Souveränität in der muslimischen Welt begründen. Beinamen wie etwa »Gottes Schatten auf Erden« unterstrichen zugleich den unantastbaren Anspruch des Sultans auf ein Mandat des Himmels.
Die Derwische
Mit Orhan betritt die osmanische Dynastie die Bühne der Geschichte. Aus seiner Zeit stammt das erste erhaltene Dokument der Osmanen. Es handelt sich um eine Stiftungsurkunde, mit der Orhan Land an einen muslimischen Derwischorden verschenkte. Die verschiedenen Gemeinschaften der Derwische gehörten einer Strömung des Islam an, die in Askese und Versenkung die Unmittelbarkeit zu Gott suchte. Viele Derwische lebten unter ärmlichen Umständen in streng organisierten Gemeinschaften. Im Volk wurden sie geachtet für ihre Weisheit und Bescheidenheit. Die Osmanen förderten die Orden der Derwische. Berühmt bis heute ist in der Türkei die Gemeinschaft der Mevlevi, der »tanzenden Derwische«, die in ihrem Ritus die spirituelle Vereinigung mit Gott suchen.
Bild 108
Derwische des Mevlevi-Ordens, die sich durch wirbelnde Drehungen in einen Zustand spiritueller Trance versetzen.
»Innerhalb von wenigen Jahrzehnten war das osmanische Beylik neben Byzanz zur wichtigsten Macht im Marmararaum aufgestiegen.«
Klaus Kreiser, Historiker und Turkologe
Orhans Sohn Murad I. erwies sich wie seine
Weitere Kostenlose Bücher