Der Heilige Krieg
Land war nun ein unabhängiger Nationalstaat. Gamal Abdel Nasser und einige andere Offiziere putschten schon bald darauf die korrupte ägyptische Monarchie hinweg. Diese »Revolution der freien Offiziere« von 1952 setzte auf den Nationalismus als obersten Wert. Sie wollten einen autoritären Staat schaffen, der sich zum Sozialismus weiterentwickeln sollte und der seine Zukunft in einem Bündnis mit der Sowjetunion sah. Die ehemaligen Kolonialmächte England und Frankreich hatten abgewirtschaftet, die Sowjetunion dagegen galt als Partner, mit dem man eine neue Weltordnung schaffen konnte. Diese Vision war äußerst populär in der gesamten arabischen Welt – und Ägypten war die größte und einflussreichste arabische Nation. Somit wurde Nasser zu einem herausragenden politischen Hoffnungsträger mit starkem Rückhalt im ägyptischen Volk. In jenen Jahren spielte der Islamismus keine große politische Rolle. 1954 entkam Nasser einem Mordanschlag, den er den Muslimbrüdern anlastete. Die Organisation wurde verboten, ihre Anhängerschaft grausam unterdrückt, eingekerkert oder verbannt.
Ägypten als Wiege des modernen Islamismus
Die ersten modernen Islamisten, die sich als politische Kraft formierten, waren ab 1928 die sogenannten Muslimbrüder in Ägypten. Ihre politisches Credo lautete schlicht: »Der Koran ist unsere Verfassung.« Sie sahen im Islam ein »vollständiges und allumfassendes System«, mit dessen Hilfe sich auch politische und soziale Probleme lösen ließen. Mehr als den Islam brauche eine funktionierende und gottgefällige Gesellschaft nicht – das war ihre Vision. Somit bestand die Lösung aller politischen Probleme der Muslime darin, einen islamischen Staat zu errichten. In diesem Staat sollte die Scharia – die aus den heiligen Schriften des Islam abgeleitete Rechtsprechung – angewandt werden. In Ägypten wurden die Muslimbrüder zur einer breiten Bewegung, die sich aus dem städtischen Kleinbürgertum rekrutierte. Sie waren zugleich Teil einer Widerstandsbewegung, die sich gegen die koloniale Weltordnung richtete. Die Muslimbrüder setzten auf islamische Werte und Konzepte, um die Würde jener wiederherzustellen, welche sich von der britischen Kolonialherrschaft unterdrückt sahen. Damit standen sie im Gegensatz zu jenen, welche zwar auch die Fremdherrschaft der Europäer abschütteln wollten, aber dabei auf die weltliche Ideologie des Nationalismus setzen – ihnen galt nationale Selbstbestimmung als erste Voraussetzung für Würde und Freiheit.
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Schon in den 1950er-Jahren wurden die Muslimbrüder in Ägypten als angebliche Drahtzieher eines Anschlags auf Nasser brutal verfolgt.
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse entwickelte der 1911 geborene Sayyid Qutb eine Ideologie, die zur gedanklichen Grundlage unzähliger militanter Islamisten werden sollte.
In seinen Augen war das moderne ägyptische System ein Paradebeispiel für die »antiislamische Barbarei«, die sich weltweit breitmachte. Er sah diese Welt in einem Zustand der Verblendung. Und dem musste ein Ende gemacht werden – so wie der Prophet Mohammed 13 Jahrhunderte zuvor die Barbarei vernichtet hatte, indem er erfolgreich die Lehren des Koran verbreitete und dessen Herrschaft militärisch vorbereitete. Qutb betrachtete alle, die der »antiislamischen Barbarei« anhingen, nicht länger als Muslime, sondern als »Ungläubige«. Dies gilt in der islamischen Lehre als eine der schlimmsten Anschuldigungen gegen einen anderen Muslim. Wer diese Anschuldigung ausspricht, tut etwas, was man als »takfir« bezeichnet – was bedeutet, einen anderen Muslim oder jemanden, der sich als solcher ausgibt, zu »exkommunizieren«. Man stößt ihn aus der Gemeinschaft der Gläubigen, der »umma«, aus. Für jene, welche das islamische Recht wörtlich und damit äußerst streng auslegen, ist ein solcher Ungläubiger vogelfrei, was einem Todesurteil gleichkommt. Während ein solcher Urteilsspruch traditionell von islamischen Rechtsgelehrten sehr zurückhaltend angewandt wurde, erkannten Anhänger der Lehren Qutbs überall mangelnde Glaubensfestigkeit. Mit diesem Denken wurde der entscheidende Schritt vom Islamismus zum Dschihadismus getan. Der Unterschied zwischen beiden ist bedeutsam, denn es sind gerade die Dschihadisten, die Nicht-Gleichgesinnte rasch zu »Ungläubigen« erklären, deren Leben damit nicht mehr viel wert ist.
Wer so denkt wie Qutb, kann sich nicht in die von ihm kritisierte Gesellschaft einreihen. Er und seine
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