Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)
haben in meinem Land so lange Zeit in bitterster Gefahr leben müssen, auf allen Seiten von Feinden umgeben, die nur einen Steinwurf weit weg waren. Wie hätten wir da nicht automatisch Wachsamkeit zu einer Gewohnheit entwickeln müssen? Ein Volk von Spionen, aber ja. Wohin immer wir gehen, sehen wir uns um, schnüffeln wir, heben jedes Deckchen hoch, um zu sehen, was vielleicht darunter verborgen sein könnte. Aber für Kyocera-Merck spionieren? Nein, das denn doch nicht. Ich spioniere nur für mein Land. Es geht da um Patriotismus, nicht um schäbigen wirtschaftlichen Gewinn, verstehst du das?«
»Du meinst das ganz ernst«, sagte sie erstaunt.
»Ein Journalist, ein Spion – das ist doch das gleiche, oder findest du nicht?«
»Und du bist hergekommen, um mit Nick Rhodes zu sprechen, weil dein Land die Adapto-Technik stehlen will, an der er arbeitet.«
Er bemerkte, dass sie sehr rasch Zeichen der Trunkenheit aufwies. Das Gespräch war von bloßer Spielerei weit in eine ganz andere Richtung abgerutscht.
»Stehlen? So etwas würde ich niemals tun. Wir stehlen nie. Wir besorgen uns Lizenzen, wenn nötig, kopieren wir, oder erfinden neu. Aber Stehlen? Nein. Das ist nach den Mosaischen Geboten untersagt. Du sollst nicht stehlen, wird uns gelehrt. Imitieren, das ja. Darüber steht nichts in der Thora. Und ich gestehe dir auch ganz offen und freimütig und ohne Zögern, dass wir sehr gern mehr über das Projekt deines Freundes Dr. Rhodes erfahren würden, über diesen Plan einer genetischen Umgestaltung des Menschen.«
Er betrachtete sie eindringlich. Sie wirkte gerötet und mindestens halb betrunken: die abendliche Hitze, der Wein, seine zweifellos kaum zu übersehende Reaktion auf den Tower of the Heart, das alles hatte seine Wirkung auf sie gehabt. Er neigte sich zu ihr hinüber, legte seine Hand auf ihre und sprach leise drängend und vertraulich: »Aber jetzt, wo ich dir gestanden habe, dass ich ein Spion bin, wirst du doch nichts dagegen haben, wenn ich jetzt ein bisschen schnüffeln muss. Nein? Gut.« Sie glaubte anscheinend, dass er ein Spielchen vorhatte. Schön, schön, er war gern bereit, sie zu amüsieren. »Also, beantworte mir eine Frage«, sagte er. »Was hältst du von Rhodes, ganz ehrlich? Ist der wirklich einer großen Sache auf der Spur? Werden sie da in seinen Labors einen neuen Menschen erschaffen?«
»Oh! Du machst ja gar keinen Witz. Du bist wirklich ein Spion!«
»Na und? Habe ich das denn bestritten?« Er streichelte ihren Arm. Die Haut war erstaunlich glatt; die weichste, glatteste Haut, die er je berührt hatte. Er überlegte, ob sie sich vielleicht mit irgendeinem synthetischen Material überzogen haben könnte. Es gab Frauen, die so etwas taten. »Also, was ist mit ihm? Was weißt du über seine Arbeiten?«
»Nichts«, antwortete sie. »So wahr mir Gott helfe, Marty.« Er hatte ihr gesagt, sie solle ihn ›Marty‹ nennen, weil ›Meshoram‹ ihr zu fremdartig vorkam. Sie kicherte. Vielleicht reizte sie die Vorstellung, von einem echten Spion als Quelle angezapft zu werden. »Ich würde dir ja gern sagen, was ich weiß, nur, ich weiß gar nichts. Du hättest dich lieber an Isabelle ranmachen sollen, wenn es dir nur darum geht. Ihr erzählt Nick schon manchmal was von seiner Arbeit. Aber mir sagt sie davon nichts weiter, jedenfalls nichts, was dir irgendwie nützen könnte. Ich erfahre immer bloß klitzekleine Fetzchen.«
»Wie zum Beispiel …?« Er strich ihr sacht über die runde Brust. Sie zitterte und wand sich ein wenig. »Sag's schon. Was zum Beispiel?«
Sie schloss kurz die Augen, als ob sie nachdächte.
»Also, dass sie dort einen jungen Mann haben, der an einem großen Durchbruch arbeitet, irgendwas mit verändertem Blut, das dann grün sein soll, statt rot. Und andere Veränderungen, noch größere. Keine Ahnung, was für welche. Ehrlich … Hier, trink noch einen Schluck Wein, er schmeckt fein, nicht? Grünes Blut, ha! Aber besser, finde ich, als grünen Wein trinken zu müssen.«
Enron tat, als trinke er. Grünes Blut, überlegte er. Eine Art Haemoglobinaustausch? Doch er erkannte auch, dass Jolanda die Wahrheit sagte: Sie wusste nichts. Es war also wohl überflüssig, nach Details weiterzufragen.
Dennoch fragte er: »Weißt du, wie der andere Wissenschaftler heißt? Der jüngere Bursche?«
»Nein. Isabelle könnte es wissen. Die solltest du fragen.«
»Sie ist eine sehr schwierige Frau. Ich glaube, sie wird nicht bereit sein, mit mir zusammenzuarbeiten.«
»Ja.«
Weitere Kostenlose Bücher