Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)
Spur Courage hätte, er würde fliehen. Das weiß er. Aber so etwas fällt ihm nie leicht. Er ist ein wilder Klammerer, er klebt verzweifelt an allem, das auch nur vage ein bisschen Tröstung zu bringen verspricht.
Dann allmählich versinkt er in einen unruhigen Schlaf. Gegen fünf wacht er auf, haucht der schlafenden Isabelle einen Kuss auf die Nasenspitze und fährt zu sich nach Hause.
Ein paar Minuten nach acht ist er in seinem Büro. Das giftige Miasma der verflossenen Nacht wabert noch um ihn, aber irgendwie hofft er, dass er sich durch einen Tag voll intensiver harter Arbeit aus seiner Depression lösen kann. Immerhin, denkt er, sind wir bei den ganzen Scheußlichkeiten gestern Nacht nicht dazu gekommen, uns wieder mal über meine Forschungen zu zanken. Aber das war ja wohl nur ein recht kleiner Trost. Bestenfalls.
Er hielt sich Van Vliet vom Hals, solange es ging. Bis fast gegen Mittag. Der Kerl verursachte ihm Darmkrämpfe. Vor vier Tagen war der Genehmigungsantrag für die Budgeterhöhung für Van Vliets Haemoglobinforschung nach New Tokyo gegangen, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde die Sache ohne Einwände genehmigt werden, wenn man bedachte, in welch hohem Ansehen Rhodes beim Topmanagement der Firma stand.
Aber bis dahin würde Van Vliet eben warten müssen. Aber der Junge schien dazu nicht fähig zu sein. Zwei-, dreimal täglich blies er ins Horn und nervte Rhodes, weil er ihm unbedingt von dem oder jenem aufregenden neuen Ergebnis nach seinen vorläufigen Theorien berichten musste. Im Moment war Rhodes aber gar nicht dazu aufgelegt, sich so etwas schon wieder zuzumuten. Nicht nach der vergangenen Nacht, und bestimmt nicht so früh am Tag.
Er vertrödelte möglichst viel Zeit, indem er sich stur durch den Wust auf seinen zwei Seitentischen und den ganzen Bergen direkt vor sich hindurcharbeitete, Papiere abzeichnete, ohne sie richtig zu lesen, einige Dokumente ohne Signatur zur endgültigen Ablage abschob, ohne zu denken und ohne Gewissensbisse zu haben. Und nach und nach merkte er, dass ein Teil seiner neuerlichen seelischen Abschürfungen wieder zu heilen begannen.
Etliche Gläschen halfen ihm über die böse Zeit. Der erste Drink schmeckte merkwürdig blechern – ein übler Nachgeschmack von der letzten Nacht, dachte er, die Geschmacksnerven rebellieren noch dagegen, dass ich zuviel von Isabelles verdammtem Algenbrei-›Scotch‹ gesoffen habe. Aber sein zweites Glas besserte die Lage beträchtlich. Und das dritte ging ganz problemlos durch die Kehle.
Schließlich fühlte er sich wieder relativ wohlgewappnet, und da ihm klar war, dass er sich nicht länger vor der Konfrontation mit seinem jungen Kollegen drücken könne, drückte er die Verbindungstaste und sagte: »Ich kann jetzt mit Dr. Van Vliet sprechen.«
»Heißt das, du nimmst jetzt wieder Gespräche an, Dr. Rhodes?«
»Offensichtlich. Waren welche da für mich?«
»Nur einen«, antwortete der Android.
Isabelle! Es tut ihr leid, dass gestern Abend alles dermaßen schiefgelaufen ist!
Nein. Nicht Isabelle. »Ein Mr. Nakamura hat angerufen«, sagte der Android.
»Wer?«
»Mister Nakamura von East Bay Realty Associates. Es geht um das Haus in Walnut Creek, an dem du interessiert bist.«
Rhodes kannte niemand mit dem Namen Nakamura. Und er hatte auch nicht vor, sich ein Haus in Walnut Creek oder sonst wo zu kaufen.
»Es muss sich um eine falsche Nummer handeln«, sagte er. »Bestimmt will er einen anderen Nicholas Rhodes sprechen.«
»Er sagte, das würdest du wahrscheinlich annehmen. Aber ich soll ausrichten, dass es sich nicht um einen Irrtum handelt, dass du die Bedingungen seines Angebots sofort erkennen und als höchst angenehm empfinden würdest, wenn du erst mit ihm gesprochen hättest.«
Nakamura?
Walnut Creek?
Es ergab keinen Sinn. Aber alle Erwägungen darüber mussten vorläufig warten. Van Vliet war wieder in einer der Leitungen.
Er wollte Rhodes sofort einige neue Grafikblätter im Büro vorbeibringen. Welche Überraschung! Van Vliet hatte schon wieder einen Packen Material parat.
Rhodes seufzte. »Was für Blätter?«
»Etliche Atmosphärenextrapolationen, die projektierten Zyanwasserstoffwerte und wie wir die sich daraus ergebenden Implikationen bewältigen wollen.«
»Ich stecke hier schrecklich mitten in der Arbeit, Van. Hat das nicht ein wenig Zeit?«
»Aber es ist wahnsinnig aufregend.«
»Zyanwasserstoff zu atmen ist aufregend?«, fragte Rhodes. »Ja, vermutlich wäre das so. Aber nicht sehr
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