Der hellste Stern am Himmel
richtig gebrannt: Die Fensterscheiben waren in der Hitze gesprungen, die Farbe an der Decke hatte Blasen geworfen, so dass die Decke neu gestrichen werden musste, und an den Wänden hing Ruß. Wäre der wieseläugige Flan Ramble nicht gewesen, der das Feuer entdeckt hatte, bevor das ganze Haus in Flammen stand, wer weiß, was dann geschehen wäre. Aber Murdy, Ronnie und Raymond (und auch Ellen, nebenbei bemerkt) behaupteten steif und fest, das Haus sei nie in Gefahr gewesen, und Lydia war sich im Klaren, dass sie um einen weiteren Besuch bei dem Hausarzt Buddy Scutt nicht umhinkam.
»Eine Überweisung zu einem Scan«, sagte Lydia zu der Sprechstundenhilfe (Peggy Routhy, wie der Zufall es wollte). »Ich gehe erst wieder, wenn er sie ausstellt. Und ich kann gut warten. Alle Taxifahrer können das. In Dublin muss ich manchmal elf Stunden warten, bis ich einen Fahrgast bekomme.«
Peggy Routhy ging ins Behandlungszimmer und empfahl Buddy Scutt mit eindringlicher Stimme, Lydia abblitzen zu lassen. Offensichtlich hegte Peggy immer noch einen Groll gegen Lydia, weil sie darauf bestanden hatte, die Taxifahrt zur Entbindungsstation zu berechnen. Kleinstadt, dachte Lydia verächtlich. Professionelle Unabhängigkeit gab es nicht, persönliche Beziehungen durchdrangen alles.
Mit einem spöttischen Lächeln kam Peggy aus dem Behandlungszimmer. »Kein Glück.«
Gut. Dann würde sie eben warten. »Hallo, Mrs. Tanner«, sagte sie zu einer Frau im Wartezimmer. »Was fehlt Ihnen denn? Sie haben Schmerzen in der Brust? Da weiß ich nicht, warum Sie hier sind, bei diesem Versager. Er hat doch keine Ahnung. Man sollte ihm seine Approbation entziehen. ENTZIEHEN, jawohl. Ich kann Ihnen ja mal erzählen, welche Fehldiagnose er meiner armen Mum gestellt hat –«
Peggy Routhy wurde ins Behandlungszimmer gerufen, und nach einigen Minuten kam sie mit einem Umschlag wieder, den sie Lydia reichte.
»Ist das für den Scan?«
»Nein.«
Lydia sprang auf und marschierte auf Dr. Scutts Behandlungszimmer zu.
»Ohne Termin darf man da nicht rein!«
Dr. Scutt saß hinter seinem Schreibtisch.
»Was ist da drin?« Lydia schwenkte den Umschlag.
»Ich schicke Ihre Mutter zu einem anderen Arzt, der soll sie sich mal ansehen«, sagte er. »Wenn mein Kollege der Meinung ist, Ihre Mutter braucht die Untersuchung,
was ich sehr bezweifle, dann wird er sie überweisen. Ich mache das nicht.«
Der Scan war jetzt eine Frage des Prinzips, merkte Lydia. Eine Frage der Macht zwischen ihr und Dr. Scutt. Er würde nicht nachgeben. Er konnte das schon deshalb nicht, weil er damit zugeben würde, dass er sich geirrt hatte.
»Zu wem schicken Sie meine Mum? Es muss ein Experte sein.« Jemand, der über Gedächtnisverlust und Verwirrung Bescheid wusste, und – ja, über Alzheimer, sie konnte es ja ruhig zugeben, denn obwohl das Wort sie ängstigte, kam ihre Recherche im Internet immer wieder darauf zurück. »Ein Arzt, der etwas über Mütter weiß, die den Verstand verlieren. Nicht jemand, der meine Mutter persönlich kennt. Nicht ein Dummkopf wie Sie.«
»Er heißt William Copeland«, erwiderte Buddy unfreundlich. »Ein Neurologe, er kennt sich bei Verrückten aus.«
SIEBENUNDDREISSIG TAGE …
Katie blätterte die Seite im Märchenbuch um und las weiter, Vivienne in ihrem Kinderbettchen seufzte wohlig und schläfrig.
»… und der Feenkönig sagte zu Killian: ›Du hast die Probe bestanden. Dein Wunsch wird dir erfüllt. Du darfst allwissend sein.‹
›Dann verlasse ich jetzt diesen Ort‹, sagte Killian, ›und zeige aller Welt mein großes Wissen.‹
Der König erwiderte: ›Nicht so eilig.‹
Katie hörte auf zu lesen und betrachtete zweifelnd den Einband. Keltische Mythen , stand da. Und der Titel der Geschichte war Der Mann, der alles wusste. Sie hatte von der Geschichte noch nie gehört.
Vivienne regte sich – warum hatte die Geschichte aufgehört –, und Katie las eilig weiter.
»›Du kannst nur als Geist allwissend sein. Du musst dein Leben dafür geben.‹
Das machte Killian wütend. ›Du hast mich in eine Falle gelockt‹, rief er. ›Und wieso wusste ich das nicht, wenn ich doch allwissend bin?‹
Der Feenkönig hatte Mitleid mit ihm. ›Du hast das Kleingedruckte nicht gelesen. Da steht nicht, dass du alles wissen wirst. Es steht nur, dass du die Fähigkeit haben wirst, allwissend zu sein – aber dass du dafür arbeiten musst.‹«
Das war eine äußerst merkwürdige Geschichte, dachte Katie und betrachtete wieder den Einband.
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