Der hellste Stern am Himmel
war so erschöpft, dass ihr schlecht war. Nach den dramatischen Ereignissen des letzten Abends war sie ausgepowert, zu nichts mehr zu gebrauchen. Selbst zum Schlafen nicht. War das überhaupt möglich, fragte sie sich. Dass man zu müde zum Schlafen war? Aber sie war auch zu müde zum Nachdenken. Fernsehen, das war jetzt genau das Richtige. Sie warf sich der Länge nach aufs Sofa und tastete nach der Fernbedienung. Zum Glück war es Samstag, so dass sie nicht die üblichen Wochentagssendungen über sich ergehen lassen musste: Schönheitstipps für Dicke, Diätpläne, Kochkurse. Erst fand sie eine Sendung über Botswana, dann eine über Kuba. Sie fühlte sich in ihrer Trägheit wohl, zwischen Wachen und Schlafen, und träumte von fernen Ländern. Das tat richtig gut. Sie konnte sich einfach gehenlassen, ohne von missgestimmten Polen gestört zu werden. Fantastisch, das Alleinleben.
Als es an der Tür klingelte und sie in ihrem Paradies so grob gestört wurde, war sie empört. Nein! Neinneinnein! Ich gehe nicht an die Tür.
Es klingelte.
Nein, sie würde nicht gehen.
Es klingelte.
Es kann ruhig tausendmal klingeln, sagte sie zu sich, ich mache nicht auf. Auf keinen Fall.
Es klingelte.
Himmelherrgott! Sie stemmte sich entschlossen vom Sofa hoch, stapfte laut in den Flur und drückte auf den Türöffner. Zehn Sekunden später klopfte jemand an die Tür, und sie riss sie auf. »Was?«
Vor ihr stand ein Mann mit dunklen Augen und langem Haar und einem Anflug von Wildheit. Wahrscheinlich verkauft er Wischmopps, dachte sie. Doch zu ihrem Entsetzen sah sie, dass er unter seiner Jacke eine Art Musikinstrument trug. Ein Straßenmusiker? War das das Neueste, dass sie jetzt schon zu den Leuten in die Wohnung kamen, um sie zu quälen? Großer Gott!
Sie sagte: »Ich gebe Ihnen Geld, wenn Sie mir versprechen, nicht zu singen.«
Er sah sie verwirrt an. »Ich bin Oleksander. Oleksander Shevchenko.«
»Wer? Ach, Sie haben vor mir hier gewohnt.« Doch kein Straßenmusiker! Sie war erleichtert.
»Und Sie?«, sagte er. »Sind Sie die neue Mieterin? Wohnen Sie jetzt in dem kleinen Zimmer?«
»Ja, ja. Sie wollen Ihre Post abholen? Dann sollten Sie vielleicht reinkommen.«
»… und niemand in Ihrer Familie wusste etwas über Charlies uneheliches Kind?« Jemima konnte es nicht glauben.
»Keiner hatte die leiseste Ahnung«, sagte Conall mit erheblicher Genugtuung, so erfreut war er, dass er Jemima diese Geschichte erzählen konnte. »Außer Katie. Und das lag nur daran, dass ich es wusste, und das war der reine Zufall.« Conall war über die Information gestolpert, als er eine Firma »rationalisieren« sollte und eine junge Frau an seine Barmherzigkeit appelliert und ihn angefleht hatte, ihre Stelle nicht zu streichen, weil sie ein Kind hatte und keinen Penny von dem Vater erhielt – der, wie sich herausstellte, Charlie Richmond war, Katies jüngerer Bruder.
»Aber warum würde Ihr Bruder Ihren Eltern nicht davon erzählen?« Jemima hatte Mühe, das Ganze zu verstehen. »Wären sie nicht hocherfreut, wenn sie erführen, dass sie ein Enkelkind haben?«
»Katies Mutter ist eine –« Conall machte eine Pause und sah Katie an.
»Was?«, fragte Katie.
Conall wählte seine Worte sorgfältig und fuhr fort: »Sie ist eine … unzufriedene Frau, die, eh, die alle ihre Kinder schlechtmacht.«
Katie senkte den Blick und lächelte leise. »Das hast du nie gesagt.«
Conall war empört. »Das würde ich sonst auch nie sagen, Katie. Ich habe viele Fehler mit dir gemacht, viel zu viele, aber ich bin kein Idiot.«
»Ich muss schon sagen«, sagte Jemima erfreut. »Das ist wirklich eine schöne Geschichte. Darauf wartet man
gern bis zum Lebensende.« Sie bewegte sich unter dem Gewicht von Grollos Kopf. »Nicht dahin, mein Schatz. Das tut zu sehr weh.«
»Ah?«, fragte Katie – die Reaktion, die Jemima sich gewünscht hatte.
»Vor vier Jahren hatte ich Krebs.« Jemima winkte ab, als wäre es nicht mehr als ein verstauchter Zeh. »Und jetzt ist er zurückgekommen.«
Katie und Conall sahen sich an.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Katie vorsichtig forschend. »Haben Sie sich untersuchen lassen?«
»Das brauchte ich nicht. Ich kann es fühlen. Tumore. Einer auf meiner Leber. Ziemlich groß. Ich kann den Rock nicht mehr zumachen. Sehr unangenehm.« Sie lächelte. »Wenn einem die Röcke nicht mehr passen, ist es Zeit zu gehen.«
»… Eh … Wir können Ihnen doch einen neuen Rock kaufen«, sagte Conall und versuchte seine
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