Der hellste Stern am Himmel
mehrere Menschen – vier Autofahrer, sieben Fußgänger und am meisten sich selbst – mit einer abrupten Kehrtwendung. Jetzt fuhr sie zielstrebig in eine andere Richtung. Nicht wieder zum
Büro – es war also nicht so, dass sie ihr Handy oder ihre Brieftasche vergessen hatte und ihr das gerade eingefallen war –, sondern zum Fluss hinunter, ins Dockland. Die Straßen wurden enger, und sie holperte über das Kopfsteinpflaster, offenbar wusste sie genau, wohin sie wollte. Dann wurde sie langsamer und hielt an. In einer Seitenstraße lehnte sie ihr Fahrrad an die Wand und schickte eine SMS.
»Sorry. Bin krank. Bis nächste Woche.«
Von einem Gebäude halb verborgen sah Maeve zu einem Büroblock auf der anderen Straßenseite hinüber. N. B.-Technology, eine IT-Firma, noch eine; es gab zu viele davon in dieser Stadt. Aus dem Eingang strömten Menschen, die meisten jung und lässig gekleidet.
Maeve beobachtete den Menschenstrom, beobachtete ihn unablässig, ohne erkennbare Regung, während sie dabei den rechten Fuß so weit herumdrehte, dass er fast in die falsche Richtung zeigte, als wäre ihr Bein verkehrt herum angebracht. Es musste sehr schmerzhaft sein, aber anscheinend empfand sie keinen Schmerz, selbst ihr Atem hatte fast aufgehört. Plötzlich wurde sie von einem wilden Gemisch von Gefühlen geschüttelt. Sie lockerte ihr Fußgelenk, so dass es herumschnellte und wieder normal ausgerichtet war. Ein Mann war gerade aus dem Gebäude gekommen. Groß, dünn, attraktiv, mit einem so unordentlichen Äußeren, dass man ihn für einen Dichter halten konnte.
Er entfernte sich von der Stelle, wo Maeve verborgen stand, aber als spürte er etwas, blieb er plötzlich stehen, drehte den Kopf herum und sah über seine Schulter zurück. Da entdeckte er sie. Ihre Blicke trafen sich, glühend
heiße Energie verband die beiden. Es dauerte ein paar Sekunden, dann wurden seine Augen tot, sein Gesicht ausdruckslos und leer, als wäre gerade der Stöpsel gezogen worden. Er ließ den Kopf sinken und stolperte davon.
Das war also der Mann, der in Maeves und Matts Wohnung gegenwärtig war. Der sich eingeschlichen hatte und die perfekte Zweisamkeit verdarb.
Nun wollte Maeve nur fort, wollte irgendwo anders sein, aber ihre Beine zitterten so sehr, dass sie nicht aufs Fahrrad steigen konnte. Langsam, mit vorsichtigen Schritten auf der unebenen Straße schob sie ihr Rad, und sie schob es lang, so lang, bis das Zittern verging.
SIEBENUNDFÜNFZIG TAGE …
Andrej und Jan gingen auf dem Eden Quay. Sie hatten einen großen, korpulenten Mann untergefasst, der dem Anschein nach nicht imstande war zu gehen oder auch nur aufrecht zu stehen. Ein Drink in der Mittagspause, der offensichtlich ausgeufert war.
Sie stellten ein beträchtliches Hindernis dar, eine feste Mauer von drei Personen auf dem Gehweg. Die Passanten mussten einen Bogen um sie machen und sahen ihnen dann mit feindseligen Blicken nach. Doch bei genauerer Betrachtung konnte man erkennen, dass die Gestalt in der Mitte nicht ein dicker Mann war, der aufgrund seiner Volltrunkenheit unfähig war, sich zu bewegen, sondern einfach ein sehr großer Teddybär, größer noch als Andrej oder Jan.
Die drei setzten ihren holprigen Weg am Eden Quay Richtung Busbahnhof fort.
Jan wollte mit dem Bus nach Limerick fahren, wo seine Freundin Magdalena zurzeit an der Rezeption eines großen Hotels arbeitete. Am Sonntag hatte sie Geburtstag, und Magdalena war ein echtes Teddy-Mädchen.
»Nach Limerick?«, fragte der Fahrkartenverkäufer. »Eine Person?«
»Eine Person.«
Der Fahrkartenverkäufer, der Mick Larkin hieß, beugte sich auf seinem Drehstuhl nach vorn. »Kommt der auch mit?«
»Wer?«, fragte Andrej. »Bobo?«
»Ist Bobo der Bär?«
»Ja.«
»Bobo braucht eine Fahrkarte. Er ist zu groß. Er braucht einen Sitzplatz.«
»Er fährt zu seinem Schatz«, protestierte Andrej.
»Wer? Bobo?« Mr. Larkin war ein Bürokrat, der gern genau wusste, womit er es zu tun hatte.
»Nein. Jan. Der hier. Magdalena hat Geburtstag, sie ist sehr anspruchsvoll.« (In Wirklichkeit war Magdalena entzückend und unkompliziert, aber Andrej mochte das Wort, und er verwendete es, wann immer er Gelegenheit dazu fand.) »Jan hat nicht viel Geld, er kann nicht zwei Fahrkarten kaufen.«
Mr. Larkin zuckte mit den Achseln. »Bobo braucht eine Fahrkarte.«
»Sie haben keine romantischen Gefühle«, beschwerte sich Andrej.
»Ihr auch nicht. Ihr seid Polen, keine Italiener.«
Andrej wurde zornig. Sie wurden
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