Der Henker will leben Kommissar Morry
kannte ja kaum einen Menschen."
„Besitzt er in Amerika Verwandte?"
„Nein."
„Haben Sie eine Erklärung für die Mordtat?"
„Nein. Es sei denn...“
„Nun?"
Das Mädchen schob kurz die Zungenspitze zwischen die Lippen, dann sagte sie: „Es sei denn, daß der Mörder den Falschen erwischt hat."
„Wie bitte?"
„Ich halte es für möglich, daß der Stich nicht Elliot, sondern Mr. Porezzi galt!"
„Das ist in der Tat eine recht merkwürdige Theorie", meinte der Inspektor.
„Was ist daran so merkwürdig?" fragte das Mädchen und richtete ihre blaßblauen Augen auf ihn. „Mr. Porezzi ist ein ungewöhnlich bekannter und sehr reicher Mann. Es liegt auf der Hand, daß er nicht nur Freunde hat, sondern auch Neider und Konkurrenten. Nehmen wir einmal an, daß es einen Menschen gibt, der Mr. Porezzi haßt und aus dem Wege zu räumen beabsichtigt. Was würde dieser Unbekannte wohl getan haben, um seine Pläne in die Tat umzusetzen?“
„Ich weiß es nicht", sagte Claremont, der das Mädchen veranlassen wollte, weiterzusprechen.
„Dieser Unbekannte hätte sich vermutlich Helfershelfer gechartert... irgendeinen Gangster, der sich bereit erklärte, für eine gewisse Summe diesen Mr. Porezzi zu töten. Dieser Gangster verschaffte sich also Einlaß in Porezzis Haus und wartete in einem Versteck des Studierzimmers auf eine günstige Gelegenheit, den Komponisten umzubringen. Können Sie mir folgen?"
„Bis jetzt ist das nicht allzu schwer."
„Ist Ihnen eigentlich schon aufgefallen, daß Elliot und Porezzi figürlich sehr ähnlich sind? Sie haben auch das gleiche, dunkle Haar... nur ist das von Perozzi mit ein paar grauen Strähnen durchsetzt. Von hinten sind die beiden kaum voneinander zu unterscheiden. Wie ich der Zeitung entnehmen konnte, wurde Elliot in dem Badezimmer umgebracht, das an das Arbeitszimmer grenzt. Das scheint mir ein weiterer Beweis dafür zu sein, daß meine Theorie stimmt..."
„Ich verstehe", sagte Claremont. „Sie neigen zu der Ansicht, daß sich der unbekannte Gangster in Porezzis Arbeitszimmer versteckte und hervor kam, als er im Bad das Wasser laufen hörte. Er näherte sich dem vermeintlichen Mr. Porezzi... und stieß zu, als Elliot sich umdrehte."
„So könnte es gewesen sein."
„Ihre Theorie hat ein paar schwache Stellen", meinte der Inspektor. „Einen Butler erkennt man auf Anhieb an seiner Berufskleidung..."
„Darf ich Sie unterbrechen? Ich glaube nicht, daß ein Gangster aus den Slums so genau weiß, wie ein Butler gekleidet ist! Elliot trug fast immer dunkle Anzüge, weil er die gestreiften Jacken haßte."
„Schön... aber in dem Moment, als Elliot sich umwandte, hätte der Gangster seinen Irrtum bemerken müssen!"
„Was hätte das schon zu bedeuten gehabt? Der Gangster hielt ein Messer in der Hand . . . er war also in der klaren Absicht gekommen, zu töten. Hätte er sich in dieser verhängnisvollen Sekunde entschuldigen und Elliot die Chance geben sollen, Alarm zu schlagen? Außerdem halte ich es für denkbar, daß sich alles unerhört rasch abspielte ... der Arm des Gangsters stieß zu, noch ehe das Hirn den Irrtum zu registrieren vermochte."
Claremont dachte nach und nickte dann. „Ich gebe zu, daß diese Theorie etwas für sich hat."
„Ich habe sie nur deshalb entwickelt, weil ich auch bei schärfstem Überlegen kein Motiv fand, das irgendeinen Menschen hätte dazu veranlassen können, Eliot zu töten!"
„Sie sagten vorhin, daß Sie Elliot vorgestern gesehen und gesprochen haben. War er anders als sonst?"
„Nein. Er war so ruhig und ausgeglichen wie immer. Elliot besaß nicht viel Temperament. Es gab Tage und Stunden, wo ich das bedauerte."
„Er deutete nicht an, daß er irgendeine Überraschung für Sie bereit hielt?"
„Nein."
Der Inspektor erhob sich. „Ich glaube, daß die von Ihnen freundlicherweise gegebenen Auskünfte zunächst genügen. Vielen Dank, Miß Brewer... falls ich noch etwas wissen möchte, darf ich mich doch vertrauensvoll an Sie wenden?"
„Aber selbstverständlich!" erklärte das Mädchen und brachte den Inspektor zur Tür. „Ich helfe Ihnen gern... soweit mir das möglich ist. Sie werden verstehen, daß ich daran interessiert bin, daß Elliots Mörder möglichst rasch der verdienten Strafe zugeführt wird."
Mit dem Dienstwagen fuhr Claremont zu Mrs. Porezzi. Die Mutter des Pianisten wohnte in einer stillen, gepflegten Wohnstraße in einem Klinkerreihenhaus der alten niederländischen Schule, das mit grün-weißen
Weitere Kostenlose Bücher