Der Herodes-Killer
Leichenraums war etwas Vogelähnliches an ihrem Skelett, eine Leichtigkeit und Verletzlichkeit, die Rosen daran erinnerte – falls diese Erinnerung nötig war –, wie fragil das Leben war.
Dr. Sweeney summte eine improvisierte Melodie und wusch sich die Hände unter dem Wasserhahn. Das Geräusch des laufenden Wassers erinnerte Rosen an Father Flint und sein ärmliches Zimmer. Doch statt nach würzigen Räucherstäbchen mit einem Hauch Schweiß darunter roch der Leichenraum nach kalter Chemie und der Vergänglichkeit des Fleischs.
Sweeney legte seine Handschuhe an, und seine in den dunklen Höhlen des menschlichen Körpers bewanderten Finger bogen sich im grellen Deckenlicht. Von allen Räumen und Orten, die Rosen in seiner Eigenschaft als Kriminalbeamter schon hatte betreten müssen, war der Leichenraum immer der, aus dem er am schnellsten wieder verschwinden wollte.
«Detective Rosen.» Er hob den Blick von Isobel Swift und begegnete Sweeneys Augen. «Leichen beißen nicht.» Sweeney mochte fröhlich klingen, aber sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske. «Sie ist den Erstickungstod gestorben, und der Mensch, der sie ermordet hat, wusste, was er tat. Ich würde nicht einmal fortgeschrittene Kenntnisse der Medizin oder der menschlichen Anatomie ausschließen. Wir haben hier fünf verschiedene, wohlüberlegte Hiebe auf den Brustkorb. Die fünf Rippen sind nach innen eingedrungen, zwei links und drei rechts. In ihrer Brust hat das Blut beide Lungenflügel überschwemmt. Schauen Sie sich die oberen Rippen an: Die sind kurz und stabil und brechen fast nie. Er hat sich die mittleren Rippen ausgesucht, die zierlich und lang sind. Warum? Weil es lange dauert, an einem Hämothorax zu sterben. Falls Sie über ihren Tod spekulieren: Sie ist sozusagen mitten in der Luft ertrunken, da ihre Lunge mit ihrem eigenen Blut vollgelaufen ist.»
Rosen dachte nach. Er hatte einmal die Leiche einer alten Dame gesehen, der bei einem verpatzten Einbruch panisch mit Schlägen der Brustkorb zertrümmert worden war. Aber die Knochenbrüche hier vor ihm waren präzise und wiesen eine unheilvolle Symmetrie auf.
«Sadistisch», flüsterte Rosen. «Nur fünf gebrochene Rippen, damit sie möglichst langsam starb. Dieser Mensch wollte sie dabei beobachten.» Er hörte auf, laut nachzudenken, als er sah, wie das Lächeln in Sweeneys Augen in ein affektiertes Grinsen überging.
«Was ist denn, Dr. Sweeney?»
«Warum wollen Sie sich unbedingt wegen der Opfer quälen?»
Rosen wusste nicht, was er sagen sollte. Bellwood trat näher an den Seziertisch heran. «Wer immer das hier getan hat, wollte es gründlich auskosten», meinte sie.
Sweeneys Stirn glänzte im Deckenlicht des fensterlosen Raums.
Rosen wurde sich einer Reihe von Möglichkeiten bewusst, doch er behielt sie für sich.
Die Person, die Mrs. Swift vor anderthalb Jahren ermordet hat, ist der Herodes-Killer. Dieser scheint seine jüngsten Opfer nicht gekannt zu haben, aber ich würde mein letztes Pfund darauf verwetten, dass er Mrs. Swift gekannt hat. Was besteht hier für eine Verbindung? Wie passen die Bruchstücke zusammen?
«Gibt es noch etwas hinzuzufügen, Dr. Sweeney?»
«Sie meinen, ob es einen sexuellen Übergriff gegeben hat, Detective Rosen?»
Rosen hoffte inständig auf ein «Nein».
«Bei einem Skelett ist das schwer feststellbar, aber ich habe schon einen vorläufigen Bericht des Forensiklabors gesehen. Demzufolge war keine Samenflüssigkeit auf dem Bettlaken, und die Überprüfung der Schamgegend weist auf nichts Ungewöhnliches hin.» Sweeney sprach mit Rosen, als wäre der ein Kind, und zwar ein ziemlich dummes.
«Gehen wir, Carol.»
Rosen war zwar froh über Sweeneys Informationen, widerstand aber dem Drang, sich bei ihm zu bedanken oder diesem Mann, der Mitgefühl für ein Zeichen von Schwäche hielt, auch nur auf Wiedersehen zu sagen.
«Glauben Sie, dass es eine Verbindung zwischen dem Mord an Mrs. Swift und den Morden an den Schwangeren gibt?», fragte er Bellwood.
«Die Nachbarschaft von Nr. 22 und 24 könnte ein Zufall sein. Was denken Sie, David?»
«Der Zufall wäre einfach zu groß. Wir wissen, dass der Herodes-Killer vor kurzem in der Brantwood Road Nr. 24 war. Wir wissen, dass dort vor anderthalb Jahren ein Mord geschehen ist. Wir wissen, dass er in den letzten Tagen eine Frau aus Nr. 22 entführt hat. Parallel dazu stellt der Mörder bei beiden Taten medizinische Kenntnisse unter Beweis. Er wusste, welche Rippen er brechen musste, und er
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