Der Herr Der Drachen: Roman
Dämmerlicht des Eingangs zur Großen Höhle stand Shila und sah mit schwerem Herzen zu, wie die beiden Frauen im Sand verschwanden. Ihre Gestalten waren so winzig unter dem endlosen Himmel. Sie waren mutig, diese beiden, und zu Großem fähig, aber ihre Suche könnte sich auch als vergeblich erweisen. Shila spürte einen kurzen Moment lang Zorn auf die Führer aufflackern. Sie hatten ihr noch mehr gezeigt, als sie hatte erzählen dürfen.
Tallis und Jared befanden sich schon gar nicht mehr in der Stadt der Feuchtländer. Sie waren auf dem Rücken von Drachen unterwegs in Richtung Osten, und nur die Führer wussten, was sie dort erwartete. Shila konnte sich nicht erklären, warum sie Mailun und Irissa davon nichts hatte sagen dürfen. Es waren die Führer selbst gewesen, die ihr aufgetragen hatten, die jungen Männer über diese dunklen Berge zu entsenden. So war es schon immer mit den Führern gewesen. Sie teilten ihre Weisheit mit ihr, doch dann verbanden sie ihr die Augen, sodass sie blind war, was ihre Beweggründe anging. Was für ein Interesse hatten sie an Mailuns Jungen? Warum kämpften sie so hart darum, ihn zu schützen, und lieferten ihn doch der Verdammnis aus? Shila wandte den Blick zu den Schwarzen Bergen und fragte sich, was die Führer ihr als Nächstes auftragen würden.
30
T allis erwachte kurz vor Sonnenaufgang, und er fühlte sich, als wenn er kein Auge zugemacht hätte. Attar und Bren waren bereits damit beschäftigt, ihre Bündel zusammenzupacken und die Geschirre auf den Rücken der Drachen zu befestigen. Weiße Atemwölkchen schwebten vor ihren Gesichtern in der Luft. Tallis zog seinen Mantel enger um sich und half Jared, ihre eigenen Schlafmatten aufzurollen.
Sie machten sich auf den Weg, als die Sonne am Horizont erschien. Marathin schoss beinahe senkrecht empor, und Tallis war froh, dass er nur einige Schlucke Wasser zu sich genommen hatte, ehe er aufgesessen war, denn sein Magen rebellierte, und er musste gegen Schwindelgefühle ankämpfen, bis der Drache hoch genug gestiegen war und schließlich parallel zum Erdboden auf den Luftströmen zwischen den schwarzen Gipfeln dahinglitt.
»Sieh mal!«, rief Attar und deutete nach unten. »Der Hittar-Pass.« Er warf einen Blick zurück, und der Wind riss ihm den Speichel vom Mund. »Das ist der einzige Fußweg durchs Gebirge.«
Tallis sah hinunter zu einem winzigen, gewundenen Pass, der beinahe in der endlosen Schwärze der Berge verloren ging. Er verlief am Fuße eines Kammes und verschwand schließlich in der Finsternis einer Spalte. Tallis fragte sich, wie oft er wohl tatsächlich benutzt wurde. Wer außer denen, die dem Untergang geweiht waren, würde je darauf verfallen, diese toten Schattenlande zu durchqueren? Zerklüftete, schwarze Gipfel und tiefe Schluchten erstreckten sich, soweit das Auge reichte, und es schien nichts anderes in der Welt mehr zu geben als schwarzen Fels und düstere Schatten.
Noch einen weiteren Tag und eine Nacht überflogen sie die endlose Schwärze und machten nur für kurze Zeit Rast, denn das Erdrückende des Ortes schien selbst in die Herzen der Drachen einzusickern, und sie alle sehnten sich danach, sich davon zu befreien. Am Morgen des dritten Tages bemerkte Tallis schließlich eine Veränderung. Die Bergrücken liefen langsam aus und gingen in einen mit dunklen Punkten durchsetzten Dunst über. Das Land dahinter war im gleißenden Sonnenlicht noch nicht zu erkennen.
Endlich, als die Sonne den Zenit erreicht hatte, umrundeten sie die kahlen Hänge eines Plateaugipfels und sausten mit einem Mal über grasbewachsene Ebenen dahin. Sofort löste sich das niedergeschlagene Gefühl, das sie in den Fängen gehabt hatte. Sie hatten die Schwarzen Berge bezwungen.
Seite an Seite, sodass sich die Flügelspitzen beinahe berührten, flogen die beiden Drachen nebeneinander auf ein dichtes Grün zu, und ihre Schatten jagten sich auf dem Boden. Sie ließen sich absinken, als sie sich dem Bewuchs näherten, und Tallis entdeckte, dass das, was er für verzweigtes Buschwerk gehalten hatte, in Wirklichkeit Bäume waren. Aber er hatte keine Ahnung, um was für eine Art es sich dabei handelte, und schon bald hatten sie sie wieder weit hinter sich zurückgelassen.
Als sie Richtung Norden abdrehten, wich die Ebene schließlich einer Landschaft aus Hügeln und Tälern, und sie nahmen nun eine schimmernde Linie ins Visier, die sich am späten Nachmittag als Fluss entpuppte. Es war ein breiter Gürtel aus dunkelbraunem Wasser,
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