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Der Herr der Falken - Schlucht

Der Herr der Falken - Schlucht

Titel: Der Herr der Falken - Schlucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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Glück hatte Falten in ihre Gesichtszüge gezogen. Das machte sie menschlicher aber damit auch gefährlicher. Cleve beschloß, sich vor ihr in acht zu nehmen. Er bedeutete ihr nichts. Er war als kleiner Junge vor vielen Jahren für tot erklärt worden.
    »Ob ich Varrick fürchte? Selbstverständlich fürchte ich ihn. Jeder hier tut das. Es gefällt ihm, Angst zu verbreiten und wenn alle Welt ehrfürchtig vor dem Schleier der Finsternis und des Schweigens erschauert, den er um sich breitet.«
    »Du sprichst in wohlgewählten Worten, Argana«, sagte Varrick, der herangetreten war.
    Sie erschrak, ohne zu erbleichen oder vor ihm zurückzuweichen. »Ich bin seit langer Zeit mit dir verheiratet, Varrick. Du hast mich gelehrt, in wohlgewählten Worten zu sprechen.«
    Varrick legte ihr seine Hand auf den Arm, eine bleiche Hand mit schmalen Fingern, wie von einem Runenmeister gemeißelt, und eine gepflegte Hand ohne Schwielen, ohne
    Zeichen körperlicher Arbeit. »Bald achtzehn Jahre«, sagte er. »Das ist eine lange Zeit, Argana, eine sehr lange Zeit. Athol ist jetzt sechzehn und bald erwachsen. Er wird seinen Bruder Cleve ehren, der wunderbarerweise nach Hause gefunden hat. Cleve wird mein Nachfolger sein, nicht Athol. Ich hoffe, du hast dafür Verständnis, Argana.«
    Ja, Varrick war sein Vater, dachte Cleve. Ihn anzusehen war, als blicke er in sein Spiegelbild. Das erstaunte ihn und machte ihm zugleich Angst.
    »Bis zur Wintersonnenwende wird die Geschichte deiner Flucht aus Kiew gemeinsam mit Lord Merrik und seiner Laren die Talente der Skalden beflügeln«, sagte Varrick. »Aber warum bist du nicht umgehend zurückgekehrt, als du frei warst?«
    »Ich hatte alles vergessen, bis ich anfing zu träumen. Erst mit den Träumen kehrte die Erinnerung zurück. Ich ritt auf meinem Pony am Ostufer des Sees, als ein Mann mich anhielt. Ich sprach mit ihm und wurde von hinten niedergestreckt. Ein Händler fand mich, pflegte mich gesund, gab mir den Namen Cleve und verkaufte mich. Das alles ist mir erst vor drei Jahren in meinen Träumen wieder eingefallen.«
    »Bring mir eine Schale Haferbrei, Argana«, sagte Varrick. »Vielleicht habe ich dir die Träume gesandt, Cleve. Ich besitze diese Kraft, die mich überkommt, auch wenn es mir gar nicht bewußt ist.«
    »Wenn du daran glaubst, warum nicht?«
    Argana warf Cleve einen warnenden Blick zu, bevor sie sich an den großen offenen Herd begab, über dem ein riesiger Kessel hing, der viel größer war als ein Topf auf der Habichtsinsel oder in Malverne.
    »Wie viele Menschen leben in Kinloch?«
    »An die hundert. Meine Männer haben viele Kinder in die Welt gesetzt, nachdem ich deine Mutter geheiratet hatte. Ja, ich sehe es in deinen Augen. Du bist mein Sohn, und du erinnerst dich an den Mann, den du für deinen Vater gehalten hast. Er war ein Mann ohne Einsicht. Zugegeben, er war ein tapferer Krieger, aber ohne ausreichenden Verstand. Ich zwang deine Mutter, Cleve, ich tat ihr Gewalt an, weil ich sie begehrte. Eines Tages badete sie im See, dort nahm ich sie, und du warst das Ergebnis. Da dein Vater keinen Verdacht schöpfte, sah er in deinen verschiedenfarbenen Augen eine Gabe der Götter. Ah, mein Haferbrei. Komm und setz dich zu mir, Cleve. Es gibt viel zu besprechen. Erzähl mir deine Träume.«
    Cleve blickte zu Chessa hinüber, die Kiri einen kleinen Lederball zuwarf. Laren redete mit Cayman und Merrik mit Varricks Soldaten, die mit dem Säubern ihrer Waffen beschäftigt waren.
    Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, war das Brausen eines mächtigen Sturms zu hören. Die riesige Festung aus Holz erbebte förmlich unter dem Heulen des Sturms. Die Männer, Frauen und Kinder in der Halle erstarrten. Niemand schrie, niemand wagte auch nur eine Bewegung.
    Dann hörte man tosendes Wasserrauschen wie von einer Sturmflut, die gegen Felsen brandete und hochschäumte, ohrenbetäubendes Donnern, als würde die Festung von riesigen Brechern erfaßt und fortgespült. Es mußte eine Sinnestäuschung sein, da die Festung auf der hohen Landzunge vom Wasser des Sees niemals erreicht werden konnte.
    Varrick erhob sich von seinem geschnitzten Eichenstuhl, dessen Armlehnen Schlangen darstellten, jedoch waren diese Schlangen andere, als die üblichen Seeschlangen, die den Bug der Wikingerschiffe zierten. Ähnliche Schlangensymbole hatte Cleve noch nie gesehen. Es waren Zauberschlangen, weise Schlangen, die den Blick des Betrachters zu erwidern schienen. Varrick betrat das Podium, ging zu den hohen

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