Der Herr der Falken - Schlucht
Leben mit ihr versprach, interessant zu werden.
Diesen Ragnor von York hätte sie getötet, wäre er ihr zu nahe gekommen.
Und was Wilhelm von der Normandie anlangte, so war Cleve froh, daß er sie nie zu Gesicht bekommen hatte. Wilhelm war nicht so dumm wie Ragnor.
Argana schaute Cleve forschend in die Augen. »Seltsam«, sagte sie verwundert, »als du ein kleiner Junge warst, ist mir nicht aufgefallen, daß du Augen wie Varrick hast, ein goldenes und ein blaues. Vielleicht haben sie sich später erst so gefärbt.«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Cleve. »Ich erinnere mich nicht, je mein Spiegelbild gesehen zu haben.«
»Ich glaubte unserer Mutter, als sie sagte, du seist der Sohn meines Vaters. Doch dann starb er eines gewaltsamen Todes wie die meisten Männer. Varrick hat ihn getötet. Daran habe ich nie gezweifelt. Und dann heiratete Varrick unsere Mutter.«
»Ja, ich weiß«, bestätigte Cleve. »Mich wundert nur, daß mein Vater später die Tochter seiner Gemahlin geheiratet hat. Das ist nicht üblich. Ich glaube, die Christen verbieten eine solche Verbindung.«
Argana, die beinahe so groß war wie Cleve, mit langen Gliedmaßen, Augen so blau wie der Sommerhimmel und Grübchen in den Wangen, entgegnete ernst und sachlich: »Unsere Mutter starb, als ich dreizehn und bald alt genug für einen Ehemann war. Varrick faßte mich nicht an, bevor ich vierzehn war. Dann eröffnete er mir, daß er mich beschlafen werde, um zu prüfen, wie ich auf die Berührung eines Mannes reagiere. Und er sagte, wenn ich mich zu seiner Zufriedenheit verhalte, werde er mich heiraten. Ich erkundigte mich bei einer der Frauen, und sie gab mir genaue Anweisungen, wie ich mich zu verhalten habe. Varrick war zufrieden mit mir. Du darfst nicht vergessen, wir leben hier in völliger Abgeschiedenheit. Abgesehen von unseren Geschäften in Inverness und dem Handel mit den Inseln im Norden haben wir keine Verbindung zur Außenwelt. Gut, die Männer fahren nach Süden bis in die Gegend von York, und plündern hier die Siedlungen der Pikten und Briten. Mein ältester Sohn Athol sollte nach Varricks Tod Herr von Kinloch werden. Aber nun bist du zurückgekommen, und Varrick ist glücklich wie noch nie. Ich habe lange Zeit um dich getrauert, Cleve. Und ich bin froh, daß du lebst, auch wenn mein Sohn nun nicht der Erbe von Kinloch ist.«
Enttäuschung und Bedauern schwangen in ihrer leisen, melodischen Stimme.
»Ich habe fünfzehn Jahre in der Hölle zugebracht, Argana,« entgegnete Cleve kühl. »Ein Schicksal, das ich nicht verdient habe. Ich wurde als fünfjähriges Kind in die Sklaverei verschleppt. Ich werde meine Rechte einfordern. Athol ist ein gesunder, junger Mann. Und er ist mein Halbbruder. Ich hoffe, er hegt keinen Haß gegen mich und sieht ein, daß ich mir nur nehme, was mir zusteht. Ich verzichte jedenfalls nicht auf meine Rechte, das wirst du sicher verstehen.«
»Ja, ich verstehe. Aber Athol ist bald erwachsen und steht nun vor dem Nichts. Du erinnerst dich nicht an meinen Vater, ich sehr wohl. Er war ein jähzorniger, leidenschaftlicher Mann. Seine Familie, seine Söhne standen ihm sehr nah. Dann starb er im Kampf gegen Gesetzlose, wie es hieß. Ich aber glaube, Varrick hat ihn umgebracht.«
»Athol wird seiner eigenen Wege gehen wie die meisten Söhne. Wäre mein Bruder noch am Leben, hätte ich keinerlei Ansprüche. Varrick sagte gestern abend, Ethar wurde bald nach meinem Verschwinden ebenfalls vermißt. Man glaubt, er sei in den See gefallen und von dem Ungeheuer in die Tiefe gezogen und verschlungen worden.«
»Wahrscheinlicher ist, daß er von der Strömung in eine der Höhlen unter Wasser getrieben wurde. Niemand weiß es. Zuerst starb unsere Mutter, dann bist du verschwunden und schließlich Ethar. Und immer hatte Varrick seine Hände im Spiel, immer war es Varrick. Ich erkannte bald, daß unsere Mutter ihn begehrte, aber sie fürchtete ihn. Er war manchmal sehr schroff zu ihr. Wir alle haben Angst vor ihm, aber genau das bezweckt er, das gefällt ihm. Er ist ein seltsamer Mann, seine Herkunft liegt im Dunkeln und ist von finsteren Gerüchten umwoben, doch meine Mutter nahm ihn zum Gemahl.«
»Hast du immer noch Angst vor ihm?«
Nun lächelte sie und zeigte ihre weißen, ebenmäßigen Zähne. Sie war immer noch eine hübsche Frau, nicht von der überirdischen Schönheit Caymans, doch sie wirkte lebensnaher als Cayman, sie besaß mehr Bodenständigkeit, mehr Willenskraft. Das Leben mit all seinem Leid und seinem
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