Der Herr der Falken - Schlucht
Fensterläden und stieß sie auf. Dabei hielt er einen seltsam geformten Holzstab in den Händen, den er mit gestreckten Armen an die offene Fensterhöhle hielt.
Es war früher Morgen, die Sonne hatte soeben noch vom Himmel gestrahlt. Doch jetzt hatte der Himmel sich verdunkelt. Die Helligkeit im Raum wurde förmlich durch das Fenster nach draußen gezogen und machte einer tiefen Finsternis Platz. Ein heftiger Windstoß fuhr herein, und Varrick mußte sich an dem Holzriegel des Fensterladens festhalten. Cleve hätte geschworen, riesige Wasserfontänen zu sehen, die vor der dunklen Fensteröffnung hochspritzten und brausend zusammenbrachen.
Varrick wandte dem offenen Fenster und dem unheimlichen Dunkel den Rücken zu und hob die Arme. Die weitgeschnittenen Ärmel seines Umhangs blähten sich. Er sprach: »Caldon ruft mich. Ich muß sehen, was geschehen ist. Habt keine Angst. Bleibt im Haus, dann seid ihr in Sicherheit. Niemand wagt sich ins Freie!«
Er verließ das Podium, schritt auf das hohe Portal zu und stieß beide Hügel auf. Er wirkt wie ein junger Mann, dachte Chessa, gewiß nicht wie Cleves Vater. Seine Haltung war aufrecht, sein Gang jugendlich und elastisch.
Kiri preßte ihr Gesicht an Chessas Hals und wisperte in ihr Ohr: »Varrick ist so seltsam, Papa. Was ist ein Caldon?«
»Sehr seltsam«, antwortete Chessa »Ich kann es nicht erklären. Nun geben wir deinem ersten Papa eine Schale Haferbrei, mein Schatz. Alles wird sich bald aufklären. Hab keine Angst.«
»Warum hast du keine Angst?«
Chessa überlegte. »Ich weiß nicht genau. Ich halte das alles für eine gut einstudierte Theatervorstellung, ähnlich wie deine Tante Laren sie gibt, wenn sie uns Geschichten von Drachen und Helden erzählt, die ganz echt wirken, wenn sie ihren Zauber um uns spinnt. Genauso macht es Varrick.«
»Dann ist ja alles gut«, erwiderte Kiri. »Ich habe Hunger, Papa.«
KAPITEL 22
»Wie hast du das gemacht?«
Varricks Lippen kräuselten sich zu seinem feinen Lächeln. »Frag deine Frau. Ihr Vater ist der mächtigste Zauberer, von dem ich je gehört habe. Sie hat einiges von seiner Kunst geerbt, das sehe ich in ihren Augen ... diese seltsam grünen Augen, voller Geheimnisse und Abgründe. Du hast Glück, Cleve. Sie wird dich vor deinen Feinden beschützen.«
»Wenn sie mich beschützen sollte, so tut sie das mit ihrer Schlauheit und ihrer List, nicht aber weil sie irgendeinen Zauberbann spricht. Ragnor von York begehrte sie. Wilhelm der Normandie begehrte sie. Nun ist sie meine Gemahlin, und ich kann nur hoffen, daß keiner der Verschmähten oder ihr Vater König Sitric mir das Fell über die Ohren zieht. Nun sag mir, Lord Varrick, wie hast du den furchtbaren Sturm hervorgerufen, die schwarze Finsternis und die tobenden Wassermassen?«
Varrick nahm den seltsam geformten Stab zur Hand. Aus der Nähe betrachtet hatte er Ähnlichkeit mit einem geschnitzten Holzspeer, doch dafür war er eigentlich zu kurz, denn er war nicht länger als eine Elle. Er war aber auch kein Dolch, denn er war nicht zugespitzt. Er bestand aus Holz, das aber auch nicht eigentlich wie Holz aussah. Der Stab war mit Mustern bemalt, mit roten und blauen Kreisen und Vierecken. »Er gehörte dem Häuptling eines Piktenstammes, der keine Tagesreise von hier am Ostufer des Sees regierte. Ich wußte von der Macht dieses Burra, wie man ihn nennt. Die Druiden benutzten ihn Hunderte von Jahren zu ihren religiösen Riten. Der Stab ist älter als Caldon, vielleicht sogar älter als Thor und Allvater Odin. Ich habe mich jahrelang mit ihm befaßt und seine Geheimnisse erforscht. Ich lege meine Zauberkraft in den Stab und konzentriere mich darauf.«
»Wie bist du an den Stab des Häuptlings gekommen?«
»Ich habe ihn getötet. Hier, halt ihn mal.«
Cleve nahm den Burra. Er lag schwer in seiner Hand, so schwer, daß ihm der Arm nach unten gedrückt wurde. Es war unglaublich, daß ein dünner Holzstab so schwer sein konnte, dabei hatte Varrick ihn mühelos gehalten. In Cleve kroch eine kalte Beklemmung hoch.
»Ich nenne ihn Pagan«, sagte Varrick. »Was spürst du?«
»Nichts. Nur, daß er schwer ist. Der Mann, der den Stab angefertigt hat, muß ein Stück Eisen in das Holz gearbeitet haben.« Gern gab er den Burra seinem Vater zurück.
»Chessa, komm bitte mal her«, rief Varrick. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Chessa, die sich mit Laren unterhielt, hob den Kopf und kam näher. »Ja, Varrick?«
»Hier, nimm.« Damit reichte Varrick ihr den
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