Der Herr der Falken - Schlucht
dunklen Wasser stieg eine wabernde Nebeldecke auf, die das Land einhüllte. Nun war auch der Himmel grau, und nur vereinzelt schimmerte ein Fleckchen Blau hindurch. Der Nebel würde weiter steigen, bis das Land mit hellem Grau eingesponnen war, und dann würde es kälter werden. Dieser Sommernebel regierte das Land. Auf dem See schaukelten nahe am Ufer einige Fischerboote, als fürchteten die Männer, sich ins tiefe Wasser zu wagen. Sie zog fröstelnd ihren Wollumhang um die Schultern. »Was ist wohl vorhin geschehen? Dachte ich gerade an meine Mutter, und mein Geist formte daraufhin ihre Gestalt? Mein Vater ist kein echter Zauberer, warum sollte der Burra in mir magische Kräfte wecken? Warum ist mir meine Mutter erschienen?«
»Ich zweifle nicht an deinem scharfen Verstand, Chessa. Aber ich denke, die Erscheinung hatte etwas mit Varrick zu tun - es ist sein Zauber. Vielleicht hat er die Gabe, Einblick in deine Seele zu nehmen, und dabei sah er deine Mutter.«
Sie schauderte, und es hatte nichts mit dem Nebel zu tun, der sie einhüllte. Im Gegenteil, ihr war, als liebkose der Nebel sie. Er war nicht kalt, er streichelte sie leicht wie die zärtlichen Finger eines Geliebten.
Die Gruppe näherte sich der Südspitze von Loch Ness. Sanfte Hügel, auf denen Schafe weideten, zogen sich in die Feme. Über ihren Köpfen schwebten Bussarde und Falken. Möwen ließen sich im Sturzflug bis knapp zum Wasserspiegel fallen, ehe sie die Schwingen ausbreiteten. Auf den Gerstenfeldern arbeiteten Sklaven. Dahinter zogen sich dichte Wälder bis zum Horizont. Felsbrocken lagen herum wie von Riesenhand aufgeschichtet. »Varricks Land zieht sich endlos hin«, sagte Cleve. »Dort drüben muß die Falkenschlucht sein. Er erzählte mir, er habe sie so genannt, weil dort einmal drei Falken auf seiner ausgesteckten Hand gelandet seien.«
»Und es wird niemals dein Land sein, Bruder.« Athols Stimme holte die beiden jäh aus ihren Gedanken zurück. Der Junge riß die Zügel herum, und sein Hengst stieg. »Dieses Land gehört mir. Scher dich zurück nach Norwegen. Du bist ein Wikinger geworden wie diese Männer, die in Inverness Handel treiben. Wir sind anders hier. Wir sind mehr als Wikinger, mehr als du dir vorstellen kannst. Du hast keine Ahnung von uns. Du bist hier nicht willkommen, auch wenn mein Vater dir etwas anderes sagt. Er verabscheut dich. Geh weg, Cleve von Malverne. Du hast hier nichts verloren.«
Cleve blickte Athol forschend an. Der Junge war fast erwachsen, sehr unbeherrscht und hitzig. »Hoffentlich lernst du etwas Selbstbeherrschung, wenn du erwachsen wirst. Ich weiß, daß du dich verdrängt fühlst, und ich nehme es dir nicht übel. Du kennst mich nicht. Wie alle anderen hast auch du mich für tot gehalten. Aber jetzt bin ich hier, und du wirst dich damit abfinden müssen.«
»Nein«, entgegnete Athol. »Niemals.« Er riß den Hengst nochmals herum und setzte sich wieder an die Spitze der Schar.
»Wenn nur Kiri nicht hier wäre.«
»Warum?«
»Ich habe ein komisches Gefühl. Sei auf der Hut, Chessa. Wir hätten uns nicht von Athol begleiten lassen dürfen.«
Der Angriff kam so überraschend, daß ihr nicht einmal mehr Zeit für eine Antwort blieb. Cleve warf Kiri einen panischen Blick zu, die sich an Merrik schmiegte, während der bereits sein Schwert zog.
Es waren mindestens drei Dutzend wilde Gesellen in Bärenfellen und Wolfspelzen, in verdreckten, zerschlissenen Beinkleidern und die Füße mit Lederlappen umhüllt. Über ihren Köpfen schwangen sie kurze Schwerter. Sie trugen Holzschilde und Helme. Sie sahen furchterregend aus und schrien sich die Lungen aus dem Leib. Ihre Gesichter waren mit blauen und roten Kreisen und Vierecken bemalt. Pikten, dachte Cleve. Und ihm war klar, daß Athol sie gerufen hatte, nachdem er ihn beschimpft hatte.
Cleve ritt gelassen nach vorne, während die Malverneleute und Varricks Männer sich zum Kampf sammelten. Der See lag in ihrem Rücken, die Banditen rückten von vorn näher und trieben sie dem See zu. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Nicht, daß ein Wikinger je einem Kampf ausgewichen wäre oder die Flucht ergriffen hätte.
Cleve beobachtete Athol, der sein Schwert über dem Kopf schwang. Kein Zweifel, er gab den Banditen Zeichen. Im nächsten Augenblick hatte Cleve sich auf ihn gestürzt, sein Arm legte sich wie eine Eisenklammer um Athols Hals, und sein Messer richtete sich auf sein Herz. Mit einem Ruck zerrte er den Halbwüchsigen vom Pferd zu sich herüber. »Ruf
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