Der Herr der Falken - Schlucht
noch jemand am Leben«, entgegnete Igmal ungerührt. »Halt den Mund, Athol, sonst bricht dir Cleve am Ende doch noch den Kiefer. Und ich kann mir vorstellen, daß die Männer großen Spaß daran hätten.«
Ob Argana von Athols Plänen wußte, fragte sich Chessa. Sie hoffte inständig, daß sie nichts damit zu tun hatte. Andererseits liebte Argana ihren Sohn über die Maßen und war ihr feindlich gesinnt. Chessa wollte plötzlich nicht mehr nach Kinloch zurückkehren. Sie wollte auch Varrick nicht Wiedersehen.
KAPITEL 23
Wo nur Kiri steckte? Cleve hatte im Schafstall nachgesehen, in der Badehütte, bei den Kühen. Wo war sie? Er ging zu den Gerstenfeldern hinüber. Er würde sie ordentlich schelten, sich so einfach davonzumachen.
In der Halle der Festung stand Varrick wie gewohnt auf seinem erhöhten Podium vor den etwa fünfzig Menschen, die sich versammelt hatten. Mit lauter Stimme, die von den rußgeschwärzten Dachbalken widerhallte, rief er: »Argana, komm zu mir.«
Chessa blickte sich suchend um. Wo war Cleve? Wieso rief Varrick Argana zu sich? Athol stand neben Igmal und seinen Männern, machte aber keineswegs einen geknickten Eindruck. Im Gegenteil, in seinem schmalen Gesicht spiegelte sich Genugtuung, ja Triumph. Was ging hier vor?
Argana trat hochaufgerichtet und stolz an das Podium, hob den Kopf und blickte zu ihrem Gemahl auf. »Ja, Varrick? Was wünschst du?«
»Das wirst du gleich erfahren. Bist du der Meinung, daß dein Sohn Athol noch nicht erwachsen ist?«
»Er ist erst sechzehn. Aber bald ist er ein Mann. Du selbst suchst bereits nach einer geeigneten Braut für ihn.«
»Aber er ist noch nicht voll für sein Tun verantwortlich. Er ist noch leicht zu beeinflussen von Menschen, die er bewundert, die er liebt und denen er vertraut. Von dir zum Beispiel, Argana.«
»Ich hoffe, das wird auch noch der Fall sein, wenn er in deinem Alter ist, Lord Varrick.«
Varrick blickte sie kalt an. Chessa ließ sich nicht täuschen, die Bemerkung ärgerte ihn. Plötzlich fuhr ein Windstoß durch die weit geöffneten Fensterläden hinter ihm. Er hielt den Burra und betastete den Stab mit seinen langen, bleichen Fingern. Leises Raunen erhob sich in Chessas Umgebung. Wo war Cleve? Sie blickte zu Merrik hinüber, neben ihm stand Laren mit Kiri auf dem Arm. Die Kleine machte ein gelangweiltes Gesicht.
Varrick schwieg, bis der Wind sich gelegt hatte und in der
Festung wieder absolute Stille herrschte. Er schob den Burra mit einer schnellen, beinahe verstohlenen Geste in die Scheide an seinem Gürtel. »Eine Mutter hat auf ihre Kinder großen Einfluß, besonders auf ihre Söhne.«
»Das ist meist richtig«, erwiderte Argana gelassen. »Nicht aber hier auf Kinloch. Athol richtet sich strikt nach deinen Anweisungen. Er hört auf niemanden sonst. Jeder hier gehorcht nur deinen Befehlen.«
»Hast du Chessa eine Hexe genannt?«
»Ja, sie ist eine Hexe. Hast du uns nicht erzählt, ihr Vater war Hormuze, der größte Magier, den es je gab?«
»Hast du deinem Sohn Athol gesagt, sie sei eine Hexe und besser tot?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt.«
»Aber du bist dieser Meinung, nicht wahr?«
Argana drehte sich langsam zu Chessa um. Sie runzelte leicht die Stirn, als verstünde sie etwas nicht, was sie eigentlich verstehen müßte. In ihrem Blick lag keine Abneigung, nur Verwirrung.
»Vielleicht«, antwortete sie, und es war allen klar, daß sie nicht wußte, worauf Varrick hinaus wollte. Chessa spürte eine Gänsehaut ihre Arme entlang kriechen. Sie hatte Angst. Wo war Cleve?
»Athol berichtete mir, du hast ihm befohlen, Cleve und seine Leute zu töten, ebenso auch Chessa und das Kind. Er sagte, es sei nicht seine Schuld gewesen. Er befolgte nur deine Wünsche, führte deine Befehle aus.«
»Nein, das stimmt nicht. Cleve ist dein Sohn. Warum sollte ich den Wunsch haben, daß ein Sohn den anderen tötet?«
»Dann nennst du deinen geliebten Sohn also einen Lügner und wünschst, daß ich ihm mein Messer zwischen die Rippen jage für seinen Verrat?«
Argana lächelte. »Du erschreckst mich, Gemahl. Wieso sollte das mein Wunsch sein?«
Varrick blieb ihr die Antwort schuldig. »Athol wird lernen, was Ehre bedeutet. Er wird sein heutiges Vorgehen bedauern. Er wird keine Mutter mehr haben, die ihn zu Gewalt und Verrat anstiftet.« Er zog ein langes, dünnes Messer aus dem
Gürtel und trat langsam auf Argana zu, die ihm unverwandt ins Gesicht blickte.
Chessa traute ihren Augen und Ohren nicht. Argana wartete
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