Der Herr der Falken - Schlucht
Bootswand.
»Thor, rette uns!« schrie einer der Männer und wies mit dem Arm nach vom. »Seht dort! Wir sind verloren!«
KAPITEL 27
Kiri schrie auf und weckte damit die anderen sechs Kinder, die aneinandergekuschelt in dem breiten Kastenbett schliefen. Wimmernd schlug sie mit den Armen um sich und bäumte sich auf. Der kleine Torik fing an zu weinen. Die um ein Jahr ältere Eidalla rüttelte sie am Arm. »Du hast einen Alptraum. Kiri, wach auf und hör auf zu weinen.«
Kiri sprang aus dem Bett und lief zur Kammer ihres Vaters, der sie bereits an der Tür empfing.
»Papa!«
Cleve hob sie hoch und wiegte sie beruhigend. Männer und Frauen waren dazugekommen, umringten sie, rieben sich den Schlaf aus den Augen und machten besorgte Gesichter. »Es ist nichts, geht wieder schlafen«, beschwichtigte Cleve die Leute. »Sie hat Angst um Chessa und hat schlecht geträumt. Stimmt's, mein Schatz?«
Kiri, das Gesicht an Cleves Hals gebettet, schüttelte den Kopf. Er küßte ihre Schläfe, ging in die Schlafkammer, setzte sich mit ihr aufs Bett und zog eine Wolldecke über sie. »Erzähl, was hast du geträumt, Kiri?«
Sie schauderte, dann flüsterte sie: »Papa, Caldon versucht, Chessa zu befreien.«
»Was?«
Das verstörte Kind schmiegte sich schlotternd an ihn. »Beruhige dich,'Kiri. Es war nur ein böser Traum.«
Kiri schüttelte wieder den Kopf und barg ihr Gesicht an seiner Brust. »Nein, Papa, ich hab' nicht geträumt. Es war kein Traum. Caldon hörte, wie Chessa sie rief. Chessa ist in einem Boot auf dem See mit Kerek und anderen Männern. Was bedeutet das, Papa?«
Er wußte keine Antwort. War er denn nur noch von Magie umgeben? Von unerklärlichen Dingen, die er einfach hinnehmen mußte? Er drückte seine Tochter zärtlich an sich. Sie beruhigte sich und sagte in ihrer kindlich selbstverständlichen Art: »Ich bin stolz auf Caldon, weil sie versucht, Chessa zu retten. Sie tut nämlich nicht immer, worum ich sie bitte. Ich wollte, daß sie mir ihre Kinder bringt, weil ich mit ihnen spielen will. Das hat sie nicht getan. Ich hoffe, sie kann Chessa befreien, Papa.«
Darauf wußte er nichts zu sagen. Entsprang das alles nur Kiris Fantasie? Laren glaubte es nicht, ebensowenig wie Varrick. Cleve bat die Kleine, ihm mehr von Caldon zu erzählen, doch bald fielen ihr die Augen zu, und sie war eingeschlafen. Etwas in ihm sträubte sich, diese Geschichten von dem Ungeheuer zu glauben. Doch eines war klar: Chessa befand sich mitten in der Nacht auf dem See. Und bei diesem Gedanken krampfte sich sein Magen vor Angst zusammen.
Er würde keinen seiner Männer dazu bewegen können, sich nachts hinauszuwagen, selbst wenn sie wußten, daß Chessa auf dem See war und nur von sechs Männern bewacht wurde. Die Furcht der Leute war zu groß.
Er zweifelte nicht an der Existenz des Ungeheuers, von Caldon, wie Varrick und Kiri es nannten. Aber daß es die Gedanken eines Menschen spürte und verstand, daß Varricks Burra es rufen konnte - das wollte er nicht glauben, und dennoch hielt er den lebenden Beweis auf seinem Schoß. Seine kleine Tochter sah die Geschehnisse. Er akzeptierte ihre Träume oder Visionen, die sie im Schlaf überkamen. Er rüttelte sie sanft wach. »Tut mir leid, Liebling. Aber es ist wichtig. Kiri, denke an deinen zweiten Papa. Kannst du sie sehen? Ist sie immer noch im Boot mit den anderen Männern? Ist Caldon in ihrer Nähe?«
Kiri schloß die Augen, atmete tief und sank ihrem Vater an die Brust. »So ist es gut«, sagte er. »Atme tief durch, Schatz. Schließe deine Augen und denke an Chessa. Kannst du sie sehen?«
»Ich sehe Lord Varrick. Er schaut auf Pagan. Er legt seine Finger in die Vertiefungen der Kreise und Vierecke, Papa. Er hat die Augen geschlossen und summt vor sich hin.«
»Was ist Pagan?«
»Der Stab, Papa. Lord Varrick ...«
»Er ist dein Großvater ...«
»Ich weiß. Aber er will, daß ich ihn Lord Varrick nenne. Er ist jung, sagt er, jünger als du, denn die Jahre sind spurlos an ihm vorübergegangen, und er wird auch noch jung sein, wenn ich erwachsen bin und selber Kinder habe.«
»Kann er Chessa sehen?«
»Ja, ich glaube, er schickt Chessa und Caldon seine Gedanken. Ich weiß nicht, Papa.«
»Was siehst du ...«
Kiri schrie auf und warf die Wolldecke ab. »Caldon hat das Boot getroffen. Sie hat es mit dem Kopf gestoßen! Alle schreien, Papa!«
Es war nur ein sanfter Schubs, doch die Männer verloren vor Angst beinahe den Verstand. »Rudert!« schrie Kerek aus Leibeskräften.
Weitere Kostenlose Bücher