Der Herr der Falken - Schlucht
seinem Umhang hervorgeholt, packte Kerek und hielt ihm die Messerspitze an den Kehlkopf.
»Zuerst schlitze ich Kereks Kehle auf, dann töte ich Ragnor. Ihr könnt Chessa behalten, nur weiß ich nicht, was Ihr mit ihr anfangen wollt. Wie ich das Mädchen kenne, werdet Ihr Eure Entscheidung bald bedauern. Gebt auf, Majestät.« Er drückte die Messerspitze an Kereks Hals. Ein Blutstropfen lief die glatte Klinge hinab.
Turella trat vor. »Nein, tu ihm nicht weh! Kerek, ich bin ratlos.«
»Soll er mich getrost töten, Turella, das stört mich nicht. Aber er wird auch Ragnor töten und was dann? Cleve hat recht. Das Spiel ist aus.«
Die Königin blickte stirnrunzelnd auf ihre mit Erde verschmutzten Hände. »Wir finden eine dumme, kleine Frau für Ragnor. Aber das bedeutet, daß ich das bleiben muß, was ich bin, Kerek. Ich darf nicht sterben.«
»Ihr werdet nicht sterben«, tröstete sie Kerek.
»Welch rührende Szene«, unterbrach Cleve. »Nun, was ist mit dem Tausch?«
Die Königin nickte. »Laß Kerek los.«
Cleve gab ihn frei und wischte die Messerspitze an seinem Ärmel ab. »Bring mich zur Prinzessin.«
Die Königin wollte Einspruch erheben, doch Kerek legte ihr sanft die Hand auf den Arm. »Ihr könnt ihm glauben. Er hält sein Wort und wird Ragnor freilassen.«
Chessa ruhte auf einem Lager aus weichen Pelzen in einer Vorratskammer. Zwei Wachen hockten neben ihr, die sich beim Eintreten der Königin eilig erhoben.
»Laßt uns allein!« befahl sie.
Cleve sank neben Chessa in die Knie und rüttelte sie sanft. »Sie ist noch immer ohne Bewußtsein. Ihr habt sie doch schon gestern betäubt.«
»Die Wirkung der Droge wird erst morgen früh nachlassen. Sie sollte das Bewußtsein nur so weit wiedererlangen, daß sie während der Hochzeitsfeier tut, was man ihr sagt.«
Chessa stöhnte, ohne die Augen aufzuschlagen.
»Kerek, du kommst mit mir. Wenn Chessa wohlbehalten an Bord des Schiffes ist, verrate ich dir, wo du Ragnor findest.«
Es ging alles sehr schnell. Der letzte Blick, den Cleve auf die Königin warf, ließ ihn schmunzeln. Ihre Finger trommelten gegen die Schläfen. Die Frau war schon wieder am Pläneschmieden. Bald würde wohl ein unwissendes, junges Mädchen in Ragnors Bett liegen.
Nach einer Stunde hatten sie den Hafen von York hinter sich gelassen.
»Ist die Prinzessin immer noch nicht wach, Cleve?« rief Hafter herüber.
»Nein. Ich fange an, mir Sorgen zu machen. Sie ist so bleich, und ihre Haut fühlt sich trocken an. Hätte ich nur die Königin gefragt, mit welcher Droge sie betäubt wurde.«
Gunleik riet: »Mach ein Tuch naß und wisch ihr damit übers Gesicht. Vielleicht weckt der Schock sie auf.«
Er betupfte ihr mit einem nassen Lappen Gesicht und Hals. Zum ersten Mal bemerkte er ihre langen Wimpern. Ihre Lippen waren trocken und rissig.
Seine Besorgnis stieg. Zerstreut aß er, was Hafter ihm hinhielt, getrockneten Hering und etwas Brot. Sie rührte sich immer noch nicht. Cleve rüttelte sie und tätschelte ihr Gesicht. Aber sie wachte nicht auf. Gunleik riet, sie weiterhin mit dem nassen Tuch abzuwischen.
Er trug sie in den überdachten Laderaum, legte sie sanft auf ein paar Decken und streckte sich neben ihr aus. Er nahm ihre schmale Hand, die sich so trocken und heiß anfühlte.
Dann streifte er ihr die Kleider ab und wusch ihren Körper mit dem nassen Tuch. Sie wollte immer noch nicht aufwachen.
Kurz nach Tagesanbruch sagte Gunleik: »Die Königin hat ihr wohl etwas zu viel gegeben. Sie muß aufwachen, sonst stirbt sie.«
Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, daß Cleve sich hilflos und ohnmächtig fühlte. Sie durfte nicht sterben. Sie war Kiris zweiter Papa. Und auch er brauchte sie. Eine furchtbare Angst bemächtigte sich seiner. »Was sollen wir tun?«
Gunleik machte ein ratloses Gesicht.
»Sie muß aufwachen. Sie ist seit fast zwei Tagen bewußtlos.«
Rorik war herangetreten. »Wir müssen sie ins Wasser tauchen. Wir rudern nahe an den Strand, dann springst du mit ihr ins kalte Wasser. Vielleicht wird sie durch den Schock wach. Mirana hat das einmal mit unserem kleinen Ivar gemacht, und es hat geholfen.«
Cleve hielt den Vorschlag für verrückt, aber es schien die letzte Hoffnung.
Als das Boot wenige Meter vom Ufer entfernt war, hob Cleve die bewußtlose Chessa hoch und sprang mit ihr über Bord. Beide gingen sie unter. Das Wasser war so kalt, daß ihm die Luft wegblieb. Er tauchte prustend auf, fand Grund unter den Füßen und hielt Chessas Kopf über
Weitere Kostenlose Bücher