Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
Niemand aber blieb unberührt, und niemand konnte ohne Anstrengung des Willens und Geistes ihreBitten und Befehle zurückweisen, solange ihr Herr sie noch in der Gewalt hatte.
»Nun?«, fragte sie im Ton milden Vorwurfs. »Warum müsst ihr meine Ruhe stören? Wollt ihr mich denn bei Tag wie bei Nacht nicht in Frieden lassen?« Es klang nach gutherzigem Bekümmertsein durch unverdiente Kränkungen.
Erstaunt blickten sie hinauf, denn sie hatten niemanden kommen gehört; und oben am Geländer stand nun einer und schaute auf sie herab, ein alter Mann in einem langen Mantel, dessen Farbe schwer zu bestimmen war, denn sie wechselte, wenn sie die Augen bewegten oder wenn er sich rührte. Er hatte ein langes Gesicht mit hoher Stirn und dunklen, tief liegenden Augen, deren Ausdruck kaum zu ergründen war, obwohl sie jetzt ernst und gütig und ein wenig müde dreinschauten. Haar und Bart waren weiß, doch mit manchen schwarzen Strähnen um Lippen und Ohren.
»Ähnlich und auch wieder nicht«, murmelte Gimli.
»Doch lassen wir’s gut sein«, sagte die sanfte Stimme. »Zwei wenigstens kenne ich von euch mit Namen. Gandalf kenne ich nur allzu gut, als dass ich viel Hoffnung hegen könnte, er sei gekommen, um Rat oder Hilfe zu suchen. Euch aber, Théoden, Herr der Mark von Rohan, gibt Euer berühmtes Wappen zu erkennen und mehr noch das edle Antlitz, das ein Wahrzeichen des Hauses Eorl ist. O würdiger Sohn des dreifach ruhmreichen Thengel! Warum seid Ihr nicht früher und als Freund zu mir gekommen? Sehr hat es mich verlangt, Euch, den mächtigsten König der Westlande, zu sehen, besonders in diesen letzten Jahren, um Euch vor unweisem und tückischem Rat zu bewahren, der Euch verfolgt. Ist es schon zu spät? Aller mir zugefügten Kränkungen ungeachtet, an denen die Menschen von Rohan leider einigen Anteil hatten, möchte ich Euch noch immer vor dem Verhängnis retten, das unausweichlich naht, wenn Ihr weiter diesen Weg reitet, den Ihr nun eingeschlagen habt. Ja, ich allein kann Euch noch helfen.«
Théoden machte den Mund auf, als wollte er sprechen, sagte aber nichts. Er blickte zu Sarumans Gesicht auf, dessen dunkle Augenernst zu ihm hinabsahen, dann zu Gandalf, der neben ihm stand. Er schien zu zögern. Gandalf verzog keine Miene. Er stand still, wie aus Stein gehauen, als warte er auf ein Zeichen, das noch nicht gekommen war. Unter den Reitern gab es zuerst ein beifälliges Geraune und Gemurmel, dann waren auch sie still, wie von einem Bannstrahl getroffen. In so wohlgesetzten und ehrerbietigen Worten, schien ihnen, hatte Gandalf noch nie zu ihrem König gesprochen. Harsch und hochfahrend, fanden sie, hatte er Théoden immer behandelt. Und ein Schatten kroch ihnen übers Herz, die Furcht vor einer großen Gefahr: dass die Mark in einer Finsternis versinken könnte, in die Gandalf sie hineintrieb, während Saruman an der Tür zu einem Fluchtweg stand, die er halb offen hielt, sodass ein Lichtstrahl hindurchfiel. Das lastende Schweigen wurde immer länger.
Gimli der Zwerg war es, der es jäh brach. »Die Worte dieses Zauberers stehen kopf«, rief er, die Hand am Griff seiner Axt. »Helfen heißt verderben in der Sprache von Orthanc, und retten heißt töten, so viel ist klar. Doch wir sind nicht hier, um zu betteln.«
»Bitte!«, sagte Saruman, und für einen Moment war seine Stimme nicht mehr ganz so einschmeichelnd, und in seinen Augen flackerte ein Funke auf und verschwand wieder. »Noch rede ich nicht mit dir, Gimli Glóinssohn«, sagte er. »Fern von hier liegt deine Heimat, und wenig kümmern dich dieses Landes Nöte. Doch nicht aus eigener Absicht wurdest du in sie hineingezogen, und darum will ich dir nicht zum Vorwurf machen, welche Rolle du darin gespielt hast – eine wackere Rolle, wie ich nicht bezweifle. Aber sei so gut und lass mich zuerst mit dem König von Rohan reden, meinem Nachbarn, der einst mein Freund war.
Was habt Ihr zu sagen, König Théoden? Wollt Ihr nicht Frieden mit mir schließen und all die Hilfe empfangen, die mein in langen Jahren begründetes Wissen gewähren kann? Sollen wir nicht gemeinsam Rat halten, wie die bösen Zeiten zu überstehen sind, und einander mit so viel gutem Willen Schadenersatz leisten, dass unsere Länder eins wie das andere schöner erblühen denn je?«
Théoden gab noch immer keine Antwort. Ob es Zorn oder Zweifel war, was ihm die Zunge lähmte, konnte niemand sagen. Éomer ergriff das Wort.
»Hört mich an, Gebieter!«, sagte er. »Jetzt spüren wir die
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