Der Herr der Ringe
sagte Gandalf grimmig. »Es ist schon eine Weile her, dass ich deine Schere zuletzt gehört habe. Wie lange hast du gelauscht?«
»Gelauscht, Herr Gandalf? Ich kann Euch nicht folgen und bitte um Vergebung. In ganz Beutelsend gibt’s kein Haarwild und folglich keine Lauscher.«
»Lass die albernen Witze! Was hast du gehört und warum hast du gehorcht?« Gandalfs Augen blitzten, und seine Augenbrauen sträubten sich wie Borsten.
»Herr, Herr Frodo!«, rief Sam zitternd. »Lass nicht zu, dass er mir wehtut! Lass nicht zu, dass er mich in ein Ungeheuer verwandelt! Mein altes Väterchen würde sich so aufregen. Ich hab’s nicht bös gemeint, Ehrenwort, Herr!«
»Er wird dir nicht wehtun«, sagte Frodo, der sich kaum das Lachen verbeißen konnte, obwohl er selbst verdutzt und ziemlich bestürzt war. »Er weiß so gut wie ich, dass du es nicht böse meinst. Aber nun rappel dich auf und beantworte seine Fragen geradeheraus!«
»Nun ja, Herr Gandalf«, stotterte Sam. »Ich hörte allerlei, was ich nicht recht verstand, von einem Feind und Ringen und Herrn Bilbo und Drachen und einem feurigen Berg – und von Elben, Herr. Ich horchte, weil ich einfach nicht anders konnte, wenn Ihr wisst, was ich meine. Gott behüte, Herr, aber solche Geschichten habe ich doch so gern. Und ich glaube auch daran, was immer Timm sagen mag. Elben, Herr! Die würde ich ja so gern sehen. Kannst du mich nicht mitnehmen, Herr Frodo, dass ich die Elben sehe, wenn du gehst?«
Plötzlich lachte Gandalf. »Komm herein!«, rief er, streckte beide Arme hinaus, hob den erstaunten Sam mitsamt Schere, Grasschnipseln und allem durchs Fenster und stellte ihn auf den Boden. »Dich mitnehmen, dass du die Elben siehst, wie?«, fragte er und sah Sam scharf an, aber ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Du hast also gehört, dass Herr Frodo weggeht?«
»Ja, Herr Gandalf, und darum habe ich geschnauft, was Ihr anscheinend gehört habt. Ich hab’s unterdrücken wollen, aber es brach einfach aus mir heraus: Es hat mich so aufgeregt.«
»Ich kann es nicht ändern, Sam«, sagte Frodo traurig. Ihm war plötzlich klar geworden, dass seine Flucht aus dem Auenland mehr schmerzliches Abschiednehmen bedeuten würde, als bloß den vertrauten Bequemlichkeiten von Beutelsend Lebewohl zu sagen.
»Ich werde gehen müssen. Aber …«, und hier sah er Sam eindringlich an, »wenn du mir wirklich zugetan bist, dann hältst du das ganz geheim. Verstehst du? Und wenn nicht, wenn du nur ein Wort verlauten lässt von dem, was du hier gehört hast, dann hoffe ich, dass Gandalf dich in eine greuliche Kröte verwandelt und eine ganze Schar Ringelnattern in den Garten setzt.«
Sam fiel zitternd auf die Knie. »Steh auf, Sam!«, sagte Gandalf. »Mir ist etwas Besseres eingefallen. Etwas, um dir den Mund zu stopfen und als gerechte Strafe fürs Lauschen. Du wirst mitgehen mit Herrn Frodo!«
»Ich, Herr?«, rief Sam und sprang auf wie ein Hund, der zum Spazierengehen aufgefordert wird. »Ich soll mitgehen und Elben sehen und alles? Hurra!«, schrie er und brach dann in Tränen aus.
DRITTES KAPITEL
DREI MANN HOCH
D u solltest in aller Stille gehen, und du solltest bald gehen«, sagte Gandalf. Zwei oder drei Wochen waren verstrichen, und Frodo traf immer noch keine Anstalten, aufzubrechen.
»Ich weiß. Aber beides ist schwierig«, wandte er ein. »Wenn ich einfach verschwinde wie Bilbo, dann wird darüber im Nu im ganzen Auenland geredet.«
»Natürlich darfst du nicht einfach verschwinden!«, sagte Gandalf. »Das wäre grundverkehrt! Ich sagte bald und nicht sofort. Wenn dir etwas einfällt, wie du dich aus dem Auenland davonstehlen kannst, ohne dass es allgemein bekannt wird, dann ist das eine kleine Verzögerung wert. Aber du darfst es nicht zu lange aufschieben.«
»Wie wäre es im Herbst, an oder nach unserem Geburtstag?«, schlug Frodo vor. »Bis dahin könnte ich wahrscheinlich ein paar Vorkehrungen treffen.«
Ehrlich gesagt, jetzt, da es soweit war, widerstrebte es ihm sehr, wegzugehen: Beutelsend erschien ihm mit einem Mal so ein wünschenswerter Wohnsitz wie seit Jahren nicht, und er wollte seinen letzten Sommer im Auenland so gut wie möglich auskosten. Im Herbst, das wusste er, würde zumindest ein Teil seines Herzens freundlicher über das Wandern denken, denn so war es um diese Jahreszeit immer gewesen. Eigentlich war er fest entschlossen, an seinem fünfzigsten Geburtstag aufzubrechen: an Bilbos hundertachtundzwanzigstem. Es schien irgendwie der passende
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