Der Herr der Unruhe
beugte sich in der Mitte zurück, um den Knaben im Licht der Scheinwerfer besser betrachten zu können. »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«
Der Junge schüttelte langsam den Kopf.
Der alkoholisierte Transporteur stutzte. »Aber ich sehe nicht die kleinste Beule!«
Nicos Antwort beschränkte sich auf einen leidvollen Blick.
Der Fahrer runzelte die Stirn. »Sag bloß, du hast mir di e sen Schrecken eingejagt, nur um mitzufahren!«
»Nein.«
Das schlechte Gewissen des Fahrers meldete sich. »Hab wohl in der Trattoria zu lange auf den Fisch gewartet, den ich heute noch nach Rom bringen soll. Da ist meine Kehle trocken geworden. Das ist nicht gut, weißt du? Ich musste sie einfach befeuchten.«
Der Junge nickte verständnisvoll.
Sein Gegenüber fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch die dunklen Haare und fragte: »Willst du nach A n zio?«
»Rom.«
»Bist wohl ausgerissen, was?«
Wieder nickte Nico.
»Dann solltest du besser nach Hause gehen, zu deinen E l tern.«
»Die sind beide tot.«
Nachdenklich musterte der Fahrer den Jungen. Mit einem Mal rümpfte er die Nase. »Sag mal, riechst du hier so streng?«
Der Junge zuckte nur die Achseln.
»Was haben sie nur mit dir angestellt?« Der Stoppelbart schüttelte fassungslos den Kopf. »Brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich wieder zu denen zurückschicke. Und was den Geruch betrifft – wir sind wohl beide im Moment nicht gerade eine Zierde unseres Geschlechts. Mein Name ist übrigens Mario. Und wie heißt du?«
»Nico.«
»Na prächtig, Nico! Dann steig mal ein.«
Der Junge war schneller auf dem Beifahrersitz, als Mario bis drei zählen konnte. Nachdem der rundliche Mann hinter dem Lenkrad Platz genommen und den Lastwagen wieder in Gang gesetzt hatte, bemerkte er: »Wir haben übrigens beide einen Riesenbammel gehabt, Nico.«
Der Junge drehte den Kopf und blickte seinen Nebe n mann aus großen Augen fragend an. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeuges tauchten dessen Gesicht in ein gespenstisch fahles Licht.
Mario grinste säuerlich. »War kurz am Steuer eingenickt. Die Fehlzündung vorhin – sie hat mich aus dem Schlaf g e rissen. Hätte die alte Karre sich nicht gemeldet, wäre ich glatt im Straßengraben gelandet …«
Im Morgengrauen war von der sprichwörtlichen Schö n heit der ockergelben Stadt nichts zu bemerken. Alles wirkte fahl. Vielleicht entsprang dieser Eindruck aber auch Nicos trüber Stimmung. Während der Fahrt in die Hauptstadt ha t te er nicht viel gesprochen, obwohl Mario sich alle Mühe gab, ihn aus der Reserve zu locken. Er fragte den Jungen nach seiner Meinung zu den Leistungen der italienischen Fußballnationalmannschaft, wollte von ihm wissen, ob in zwei Wochen Tazio Nuvolari oder Rudolf Caracciola den Großen Preis von Monaco gewinnen würde – der Sieg von Alfa Romeo stand für ihn ohnehin fest –, aber nichts schien den schweigsamen Knaben zu interessieren. Schließlich drohte die Müdigkeit den rundlichen Wagenlenker vollends zu übermannen. Er gab den Versuch, so etwas wie eine Unterhaltung in Gang zu bringen, mit einem tiefen Seufzer auf, fuhr an den Straßenrand und legte ein Nickerchen ein. Nico war die ganze Nacht wach geblieben.
Der Junge ließ sich vor der Synagoge absetzen. Sie lag d i rekt gegenüber jener legendenumwobenen Insel, die seit alters der Medizin verbunden war und die wie ein Schiff der Toten und Kranken in den trüben Fluten des Tiber trieb, ganz langsam, mit allen Beladenen, in einem Fluss, der sie nicht als Last empfand. Menschen waren da weit undul d samer gegenüber ihresgleichen, dachte Nico. Sie brachten einander um. Wegen eines Dante-Zitats. Der Junge fühlte sich so elend, dass er am liebsten zur Tiberinsel hinüber ins Ospedale dei Fatebenefratelli marschiert wäre. Aber ve r mutlich würden sich die Ärzte im Krankenhaus für Seele n pein, wie er sie litt, nicht zuständig fühlen. Also lief er die Via del Progresso entlang in das Viertel Sant’Angelo hi n ein.
Die Werkstatt des Goldschmieds lag hier irgendwo an e i nem namenlosen Platz. Anfangs war Nico noch zuversich t lich, diesen rasch zu finden, doch bald bemächtigte sich seiner eine zunehmende Verzweiflung. Wenn er mit seinem Vater auf Besuch zu Meister Davide und dessen Frau S a lomia nach Rom gefahren war, hatte er sich nie um A b zweige, Plätze und Straßennamen kümmern müssen. Jetzt sah alles gleich aus. Erstaunlich, dass man sich in einem so kleinen Viertel verlaufen konnte. Noch vor knapp
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