Der Herr der Unruhe
fünfzig Jahren hatte es hier Reste des rione gegeben, jenes Ghettos, in dem etliche Tausend Menschen seit Mitte des sechzeh n ten Jahrhunderts auf weniger als einem Hektar Land von Mauern zusammengepfercht leben mussten. Während er im zunehmend freundlicher werdenden Licht des Morgens durch die Gassen des alten Judenviertels irrte, entsann Nico sich der Geschichten, die ihm sein Vater darüber erzählt hatte. Die meisten davon passten zu seiner düsteren Sti m mung.
Die schmiedeeisernen Laternen an den Hauswänden w a ren bereits erloschen, als er auf seiner Odyssee ungefähr zum vierten Mal eine kleine Trattoria sichtete, die inzw i schen geöffnet hatte, um ihren Gästen vor dem Besuch der Synagoge oder dem Kirchgang den morgendlichen Ca p puccino anzudienen. Eine mollige Frau mittleren Alters stellte gerade eine Schale mit Carciofi alla Giudecca ins Schaufenster. Die Artischocken, die wie vergoldete Blüten aussahen, erinnerten Nico daran, dass er seit etwa zwölf Stunden nichts mehr gegessen hatte. Ohne sich dessen b e wusst zu sein, blieb er vor der Gaststätte stehen. Die Scha u fensterdekorateurin nickte ihm lächelnd zu. Er reagierte nicht, hatte nur Augen für die Antipasti. Mit einem Mal stand die Frau in der Ladentür und hielt ihm einen Streifen Schafskäse entgegen.
»Wir wär’s mit einem Stück Pecorino, junger Mann?«
Nico zuckte zusammen.
»So schreckhaft?« Sie lachte. Ihre Stimme klang auf eine freundliche Art rau. »Man könnte ja denken, du hättest was ausgefressen. Bist wohl nicht von hier.«
Er nickte.
»Kannst du auch sprechen?«
»Ich suche Signor Ticiani, aber ich finde ihn nicht.«
»Du meinst Davide? Den Goldschmied?«
Die braunen Riesenaugen des Jungen begannen zu leuc h ten. Er nickte abermals.
Die Frau trat vor den Laden, wandte sich nach links und deutete zu einer Straßeneinmündung. »Siehst du die Gasse da drüben?«
»Hm, hm.«
»Da gehst du rein. An der nächsten Ecke biegst du links ab und spazierst immer geradeaus, bis du auf eine kleine Piazza stößt. Da findest du Davides Geschäft.«
»Danke.«
»Keine Ursache. Bestell ihm schöne Grüße von Ariana.«
Wieder nickte der Junge und wollte sich schon auf den Weg machen, als Arianas heisere Stimme ihn zurückhielt.
»Du hast deinen Käse vergessen.«
Er schnappte sich das Stück, warf ihr ein Danke zu und rannte davon.
Schon von weitem erkannte er die bis unters Dach mit Wein bewachsene Fassade jenes Hauses, in dem sich eine andere Trattoria befand, die Erinnerungen an glücklichere Zeiten in ihm weckte. Dort hatte er zwei-, dreimal mit se i nem Vater und Meister Davide zu Abend gegessen. Das Lokal lag direkt gegenüber von Davide Ticianis Werkstatt, an der namenlosen Piazza, deren Form ungefähr so ästh e tisch und planvoll war wie die einer Tonscherbe. Als sich der Platz in sein Blickfeld schob, merkte Nico sofort, dass etwas nicht stimmte.
Laden und Werkstatt des Goldschmieds lagen an der Stirnseite eines fünfgeschossigen Hauses, das sich, eing e zwängt zwischen zwei Gassen, wie ein Keil in die Piazza schob. Davor standen zwei kastenförmige Polizeifahrzeuge. Zahllose Menschen drängten sich vor dem seitlich geleg e nen Eingang, nur mühsam von einer Kette Polizisten am Eindringen gehindert.
Nico schwante Schlimmes. Sollte er gleich kehrtmachen oder erst jemanden fragen, was das Polizeiaufgebot zu b e deuten hatte? Vielleicht fand da ja gerade eine Razzia statt, die ihm galt. Der Gedanke erschien ihm durchaus plausibel. Manzini kannte genügend Leute in hohen Stellungen. Er brauchte nur die richtige Nummer wählen und beiläufig einen Verdacht äußern: Könnte es nicht sein, dass Emanu e le dei Rossis Sohn der Mörder ist …?
»Pass doch auf!« Ein knochiger Kerl hatte Nico fast u m gerannt; er konnte sich wohl nicht schnell genug unter die Gaffer mischen.
»Entschuldigung. Was ist denn da los?«
»Soll jemand erschossen worden sein«, rief der Mann ü ber die Schulter hinweg und hastete weiter.
Ein Schauer rann Nico über den Rücken. Erschossen? Manzini hatte doch nicht etwa …? »Meister Davide!« Seine Stimme war kaum zu hören. Ohne einen weiteren Geda n ken an seine Sicherheit zu verschwenden, rannte er auf die Schaulustigen zu. Sie standen dicht, aber der Junge war feingliedrig und suchte sich seinen Weg wie ein Fisch in einem schlingernden Wald aus Tang. Endlich erreichte er die Polizisten. Sie hatten sich gegenseitig untergehakt, ein Sperrzaun aus Uniformen.
»Ich will da rein!«,
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