Der Herr der Unruhe
lassen, und obwohl er unter einer dicken Daunendecke lag, schüttelte es ihn vor Kälte. Erst nachdem er das von Don a tello angebotene Aspirin geschluckt hatte, sank er schlie ß lich doch in einen traumlosen Schlummer.
Das Erwachen am Samstagmorgen beendete auf brutale Weise das Gefühl der Geborgenheit. Er wurde von einem anhaltenden Klingeln aus dem Schlaf gerissen. Ungefähr so musste es sich angehört haben, als der Diener letzte Nacht bei der Lektüre seines Buches am Kamin aufgescheucht worden war. In den letzten drei Jahren hatte sich Nico das Verhalten eines Gejagten angeeignet: Er schlief nie beso n ders tief, beobachtete seine Umgebung immer besonders misstrauisch und hielt von Überraschungen meistens b e sonders wenig – zu oft hatten sie sich zu Katastrophen en t wickelt.
Beim Aufstehen ging ein schmerzhaftes Ziehen durch seinen Rücken. Auch die Kopfschmerzen waren wieder da. Unter Stöhnen fädelte er seine Füße in die Hosenbeine ein und lief, während er sich noch das Hemd überstreifte, aus dem Zimmer, durch den Flur im Kern des Palazzo und hi n über in einen anderen, auf der Ostseite gelegenen Raum, von dem aus man in die Stadt hinuntersehen konnte. Er erreichte gerade rechtzeitig das Fenster, um Donatello in einem Hausmantel über den Hof eilen zu sehen. Es war ein trüber Herbstmorgen. Bleigraue Wolken verschleierten den Himmel.
Als Nico den Blick zur Via Roma jenseits der Festung s mauer schweifen ließ, lief ihm ein Schauer über den R ü cken. Auf der einzigen asphaltierten Straße der Stadt sta n den mehrere Truppentransporter und Kübelwagen der Wehrmacht. Daraus ergossen sich, angetrieben von ihren Hauptleuten, deutsche Soldaten. Das Ganze sah aus wie ein zweiter Aufguss der Umstellung des Vatikans. Schnell bi l dete sich um das Forte Sangallo ein undurchdringlicher Ring.
Donatello öffnete, wie es seine Gewohnheit war, zunächst die Klappe in der Tür. Wer immer dahinter stand, er hatte offenbar überzeugende Argumente, denn wenig später machte sich der Sachwalter der Festung an den alten Schlössern zu schaffen. Das Portal öffnete sich. Zwei Mä n ner traten ein. Die Uniform und die Schulterklappen des einen machten ihn als Brigadeführer der deutschen Waffen-SS kenntlich. Und der andere mit dem Hut und dem schwarzen Ledermantel … Nico glaubte, sein Blut müsste ihm in den Adern gerinnen. Selbst auf eine Entfernung von knapp zwanzig Metern war die schlampig zusammengenä h te Oberlippe in dem schmalen blassen Gesicht des Mannes unverkennbar.
Der Zivilist an der Seite des deutschen Wehrmachtsoff i ziers war derselbe Mann, der vor siebzehn Tagen in der römischen Via Dandolo in einem schwarzen Alfa Romeo gesessen hatte.
In Nicos Kopf begann ein Schöpfrad zu rotieren und u n erbittlich schlammige Gedanken in sein Bewusstsein zu spülen. Das konnte unmöglich ein Zufall sein. Wenn der Spitzel, der das Versteck von Johan und Lea Mezei be o bachtet hatte, mit einem Mal hier auftauchte, dann – Nicos Herz begann zu rasen – konnte das nur eines bedeuten.
Massimiliano Manzini war ihm auf den Fersen.
Schlimmer noch: Er kannte die Verstecke seiner Freunde in Trastevere und vermutlich auch in Sant’Angelo.
Und: Der ehemalige Leiter von Mussolinis »Läuterung s kommando« Purgatorio ging offenbar nach bewährtem Muster vor. Seine Jäger studierten das Umfeld des Opfers, beobachteten eine Weile seine Gewohnheiten, kreisten es ein und töteten es mitsamt allen anderen, die sich ihnen in den Weg stellten. Im Jahr 1932 waren es Aaron und Felic i ano gewesen, Vater und Sohn, beide unschuldig und ve r mutlich völlig ahnungslos, warum sie der Tod so plötzlich ereilte. Und jetzt …?
Nico begann zu zittern. Früher hätte er sich in einer so l chen Situation hauptsächlich um seine eigene Person So r gen gemacht, aber diese Phase seines Lebens gehörte der Vergangenheit an. Obwohl er von Feinden umzingelt und seine Lage alles andere als rosig war, musste er an Lea, Johan, Salomia, Davide, Professor Zolli und all die anderen denken, mit denen man ihn während seines letzten Aufen t halts in Rom gesehen haben könnte. Sie schwebten in G e fahr. In Lebensgefahr!
»Ich muss hier raus, muss zu ihnen«, murmelte er, und schon suchten seine Augen das Zimmer ab, als könnte er in den Schubladen der Kommoden und Schränke einen g e heimen Fluchtweg entdecken. Vor dem Gebäude entbrannte zwischen Donatello und den ungebetenen Gästen derweil ein heftiger Wortstreit, dessen Geräusche sogar
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