Der Herr der Unruhe
Wände glänzten nass im Licht der Handlampe.
»Hast du Steine in dem Koffer?«, ächzte Nico und ließ entkräftet seine Last auf den Boden sinken.
»Nur das Tafelsilber«, kam die Antwort von vorn.
»Du …?«
Donatello blieb stehen, drehte sich um und lachte. »War nur ein Scherz. Ich würde dich doch nicht zum Komplizen eines Diebstahls machen.«
»Danke.«
»Zumindest nicht, ohne vorher zu fragen.«
»Das ist beruhigend. Wo gehen wir eigentlich hin? Ich meine, sofern die SS uns nicht schnappt.«
»Keine Sorge, das wird sie nicht. Ich habe eine Freundin in der Stadt. Die wird mir weiterhelfen.«
» Du hast eine …?« Ein bittersüßes Gefühl schwemmte für einen Moment Nicos Unwohlsein fort und ließ ihn nur noch spüren, wie sehr er Laura vermisste.
»Ich an deiner Stelle würde mir genau überlegen, was ich jetzt sage, junger Mann«, warnte der Alte.
»Ist sie hübsch?«
Wie ein Operntenor kehrte Donatello mit ausgebreiteten Armen zu Nico zurück und sang folgendes Loblied: »Sie ist eine Lilie auf zwei Stängeln, wenn ich so sagen darf: blu t jung, feurig, großzügig, ja, fast verschwenderisch, welto f fen und …«
»Dann stammt sie aus Anzio?«, konstatierte Nico.
»Was, wieso?«
»In Nettuno leben die meisten von der Landwirtschaft, oder ihre Vorfahren waren Bauern. Die Leute hier sind b o denständig, gediegen, unauffällig, haben Haus und Hof im Kopf. Die Menschen in Anzio sind eher so, wie du deine Flamme beschrieben hast: Sie leben von der Hand in den Mund, denken nur ans Heute, die Frauen sind modischer, sie schminken sich. Nicht ohne Grund suchen sich viele Männer von hier ihre Ehefrau in Anzio. Seid ihr verlobt?«
Donatello plusterte sich vor Nico auf. »Man merkt, dass du als Gemeindemechaniker viel herumgekommen bist. Die ehrenwerte Dame, die mein Herz besitzt, stammt tatsächlich aus Anzio, aber sie lebt schon lange hier.«
»Dann kenne ich sie vielleicht?«
»Ja. Sie hat mir selbst erzählt, wie sie sich nach der Re t tung der kleinen Marianna Grilli um dein leibliches Wohl gekümmert hat.«
»Emma Pallotta? Die Obst- und Gemüsefrau?«
Donatello strahlte. »Ja!«
»Sie ist tatsächlich blutjung. Im Vergleich zu dir.«
»Ich denke, wir sollten jetzt weitergehen.«
Nico schulterte grinsend den Koffer und wankte hinter dem vorausstakenden Alten her.
Nach einer Weile veränderte sich die Umgebung. Die g e brannten Ziegelsteine wichen porösen Wänden aus schwarzgrauem Gestein, das vor undenklichen Zeiten Vu l kanasche gewesen war. Der geheime Fluchtweg weckte in Nico die Vorstellung an einen riesigen Bunker aus Gängen und Kammern, die sich scheinbar endlos aneinander rei h ten. Einige dieser von Menschenhand geschaffenen Höhlen mussten schon sehr alt sein, ihre Wände waren rau und durchaus nicht immer rechtwinklig aneinander gefügt. In einem größeren Raum sah er vermoderte Holzteile, die wohl einmal als Sperrwände benutzt worden waren, um das Getreide in den angrenzenden Speicherkammern zu halten.
Donatello bemerkte seinen staunenden Blick und sagte vergnügt: »Ich kann deine Gedanken lesen, junger Mann. Ja, jetzt sind wir unter der Piazza dei Pozzi di Grano.«
»Das war wohl nicht so schwer«, brummte Nico. »Kennst du auch den Ausgang?«
»Nein.«
»Was?«
»Ich wollte sagen, es gibt nicht nur einen Ausgang, so n dern mehrere. Irgendeinen werden wir schon finden. Der bestimmte, den ich suche, ist allerdings ziemlich versteckt. Warte …« Donatello umfasste mit Zeigefinger und Daumen der Stockhand seinen Schnurrbart und zwirbelte daran he r um. Zugleich drehte er sich langsam im Kreis. Plötzlich blieb er stehen und deutete in einen der Stollen. »Ja! Da müssen wir lang.«
Etwa eine viertel Stunde später standen sie wieder in dem großen Raum. Nico hatte das Gefühl, seine Arme seien au f grund des schweren Koffers inzwischen zehn Zentimeter länger geworden. Der Schweiß rann ihm in Strömen aus den Poren. Auch der Kammerdiener wirke nicht mehr ganz so munter.
»Wenn wir noch lange hier unten herumirren, ist die Ba t terie in der Lampe alle«, murrte Nico.
»Diese Bemerkung ist nicht besonders hilfreich«, erwide r te Donatello spitz.
»Noch können wir in die Festung zurückkehren.«
»Kennst du denn den Weg?«
Nico verdrehte die Augen und ließ sich auf den Koffer sinken. Er ersparte sich und seinem Führer einen weiteren unproduktiven Kommentar.
»Jetzt weiß ich es wieder!«, stieß Donatello unvermittelt hervor und eilte in eine andere
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