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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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was er beabsichtigte, sah ja nur aus wie ein Diebstahl. Er war der legitime Erbe des gesamten Dei-Rossi-Besitzes. Nur die Art und Weise, wie er sich sein Recht erkämpfen musste, war vielleicht nicht ganz koscher …
     
    Der Telefonanruf am Mittwochmorgen versetzte Don Ma s similiano einen Schock. Niklas Michels Stimme am and e ren Ende der Leitung klang erschöpft. Der Podestà von Pontinia habe sich seiner entsonnen und ihn gestern dri n gend um Unterstützung ersucht. Er sei immer noch vor Ort. Merkwürdige Sache. Mehrere Pumpen hätten sich festg e fressen. Einer der Hauptkanäle laufe bereits über. Für Po n tinia drohe eine Überschwemmungskatastrophe. Erst habe er, Niklas, nein sagen wollen – wegen der morgendlichen Prozedur mit der Lebensuhr –, aber dann habe er sich des Gespräches vor einiger Zeit entsonnen, in dem Don Mass i miliano seinem großen Interesse an einem guten Ruf Au s druck verliehen hatte. Da habe er einfach spontan Hilfe versprechen müssen. Nun könne er leider nicht um acht Uhr im Palazzo Manzini antreten, erklärte Nico hörbar ze r knirscht. Er wolle das Versäumte aber irgendwann später am Tag nachholen. Uberto könne die Uhr ja vorsorglich aufziehen.
    Manzini zischte wie ein Dampfkochtopf. Uberto stehe mit jeder Art von Technik auf dem Kriegsfuß. Was der nur a n sehe das gehe kaputt. Aber dann beruhigte sich der Podestà, überraschend schnell. Andererseits könne man einen Nac h barn nicht seiner Not überlassen. »Machen Sie Ihre Arbeit in den Sümpfen, und wenn Sie fertig sind, dann kommen Sie vorbei, Signor Michel. Laura wird sich in der Zw i schenzeit um die Lebensuhr kümmern.«
    Der Herr der Unruhe legte mit einem zufriedenen Grinsen auf. Die Aussicht, als barmherziger Samariter durch die Presse zu gehen, schien dem Stadtoberhaupt von Nettunia durchaus zu gefallen. Nico hatte für das Telefonat nicht einmal lügen müssen. Bei seinem misstrauischen Gege n spieler wäre das auch viel zu gefährlich. Die Pumpen waren tatsächlich kaputt gegangen. Nur hatten sie sich nicht ganz zufällig am Dreck verschluckt.
     
    Der 19. Juni war eine traumhafte Vollmondnacht, für Hei m lichkeiten eigentlich nicht besonders gut geeignet. Trotzdem kehrte Nico an diesem Mittwoch erst nach Ei n bruch der Dunkelheit in seine Geburtsstadt zurück. Er drang durch dieselbe Hintertür in den Palazzo Manzini ein, die er bei seinem ersten Besuch zusammen mit Uberto benutzt hatte. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Gewöhnlich lief um diese Zeit, abgesehen vielleicht von Uberto und zwei, drei anderen Bediensteten, kein Personal mehr im Haus herum. Dennoch war es nicht zu spät, um im Falle einer zufälligen Entdeckung zwangsläufig als Bedrohung eingestuft zu werden.
    »Du hast gesagt, dass du noch vorbeischauen wirst. A u ßerdem holst du dir nur, was dir gehört«, redete sich Nico zum wiederholten Mal ein, während er im unteren Wande l gang sein heftig klopfendes Herz zur Ordnung rief. Es da u erte lang, bis es endlich ruhiger schlug. Ein unangenehmes Jucken an den Schultern zwang ihn dazu, sich ständig zu kratzen. Endlich setzte er seinen Aufstieg in den ersten Stock fort.
    Weil er kein zweites Mal von Uberto überrascht werden wollte, sah er sich überall gründlich um. Von irgendwo perlte klassische Musik ins Atrium. Das in den Bogengang lallende Mondlicht malte ein silbernes Wellenmuster auf den Steinfußboden. Die Harmonie wurde, soweit Nico das beurteilen konnte, von keinen stillen Spähern in den Scha t ten oder von einer herumspukenden Donna Genovefa g e stört. Trotzdem – man wusste ja nie – lief er so unauffällig wie möglich zum Arbeitszimmer, nur etwas leiser als sonst. Als er die Tür erreichte, erlebte er die erste Überraschung.
    Aus dem Schlüsselloch drang Licht.
    Was nun? Er hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Manzini um diese Zeit noch arbeitete. Unvermittelt schwoll die leise dahinplätschernde Musik aus dem Irgendwo zu einem konzertanten Schallgewitter an. Nico schreckte u n willkürlich zusammen.
    Die unwillkommene Geräuschkulisse kam von oben. La u ra hatte dort ihr Zimmer. Mit einem Mal verstummten die Musikanten, und eine männliche Stimme verschaffte sich Gehör. Nico fühlte für einen Augenblick Eifersucht in sich aufwallen, aber dann fiel ihm der förmliche Ton des and e ren auf, der die »Feigheit des Engländers« anprangerte, welcher am Vortag die deutschen Städte Hamburg und Bremen bombardiert und dabei unschuldige Frauen und Kinder getötet

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