Der Herr der Unruhe
gelungen. »Woher kommt es, dass Sie so gut Deutsch sprechen?«, fragte er den Priester nach der Begrüßung.
»Gut? Ich habe es in einem Seminar in Prag gelernt, aber man hört wohl, dass es lange her ist.«
»Nein, Ihre Wortwahl ist immer noch makellos, nur die Aussprache …« Er biss sich auf die Unterlippe.
Padre Giacomo lachte abermals. »Sie gefallen mir, Herr Michel! Sagen Sie immer, was Ihnen im Kopf rumgeht?«
»Na ja …« Nico wusste im Augenblick nicht einmal, was er denken sollte.
»Zeigen Sie uns die Höhlen?«, bettelte Laura. Dabei wippte sie in den Knien ungeduldig auf und ab.
Der Priester grinste. »Das habe ich dir ja wohl verspr o chen.«
»Höhlen?«, fragte Nico verwundert.
»Haben Sie schon unsere Blumenbilder gesehen?«, e r kundigte sich der Geistliche.
»Ja, sie sind wirklich schön.«
»Und?«
»Was und?«
»Sie haben sich nicht gefragt, wie all diese Millionen Bl ü ten an einem heißen Tag Ende Mai noch frisch sein kö n nen?«
»Ehrlich gesagt …«
»… ist Ihnen das bei der Betrachtung einer einzelnen, ganz wunderhübschen Blume völlig entgangen, nicht wahr?« Der alte Seelenhirte zwinkerte Laura zu, und sie zauberte Fäl t chen auf ihre Nase.
Nico grinste schief.
Padre Giacomo Lo Bello mochte an die siebzig sein, war für sein Alter aber erstaunlich agil. Nico und Laura mussten sich anstrengen, um den durch die Gassen Genzanos fli t zenden Alten im Gewühl der Festtagsbesucher nicht zu verlieren. Endlich erreichten sie das Rathaus, in dessen Ke l ler sich der Eingang zu den Blumenhöhlen befand. Eine eiserne Pforte versperrte den Zutritt. Der Priester besaß den dazu passenden Schlüssel.
Wenig später befanden sie sich in der Unterwelt.
»Seit Anbeginn der Zeit graben die Menschen der Gegend schon im Tuffstein«, erklärte Padre Giacomo im Vorang e hen. In der Rolle des Fremdenführers fühlte er sich erken n bar wohl. »Sozusagen jeder Keller in der Stadt hat seine eigene Höhle. Etliche sind sogar untereinander verbunden. Hier unten bleibt es das ganze Jahr über kühl. Einige Hö h len sind so kalt, dass die römischen Kaiser darin bis in den Sommer hinein ihr Eis lagerten, um sich allerlei kulinar i sche Extravaganzen zu erlauben. Sie fragen sich bestimmt, wozu die vielen Rahmen und Holzböcke da sind, mein Sohn.« Er zeigte mit dem Kinn auf einen Stapel armbreiter, an der Tunnelwand lehnender Schubladen.
Nico deutete zu einem Häuflein Blätter auf dem Boden. »Vermutlich damit die Blumen von allen Seiten Luft b e kommen und nicht faulen. Da liegen ja noch ein paar.«
»Das sind die kläglichen Reste der Dekoration unseres diesjährigen Corpus Christi. Aber Sie haben Recht. Einige Beerenarten lagern viele Wochen hier. Sie hätten uns vor vierzehn Tagen zusehen sollen, als wir die frisch gepflüc k ten Blüten auf die Kästen verteilt haben. Es duftete wie im Paradies.«
»Ich finde, das Aroma liegt immer noch in der Luft. Das alles ist … erstaunlich!« Nico spürte, wie sich Lauras Hand an seinem Arm hinaufarbeitete und ihn schließlich unte r halb der Achsel fest umklammerte. Sie räusperte sich.
»Padre Giacomo?«
»Ja, mein Kind?«
»Ich wollte Sie etwas fragen.«
Seine dunkelblauen Äuglein funkelten. »Dann ist das jetzt ja wohl ein günstiger Augenblick, nicht wahr?«
»Wenn Niklas und ich eines Tages heiraten wollen, wü r den Sie uns trauen?«
Nico war wie vom Schlag gerührt. Alles Blut fiel aus se i nem Kopf und schien geradewegs im Tuffstein zu vers i ckern. Wenn Laura ihn nicht gehalten hätte, wäre er ve r mutlich zusammengebrochen.
»Hast du ihn denn schon gefragt?«, erkundigte sich der Seelsorger.
»Es sollte eine Überraschung sein.«
»Die ist dir offenbar gelungen. Er sieht ganz blass aus. – Möchtest du dieses Mädchen ehelichen, mein Sohn?« Die Frage war an Nico gerichtet.
Er öffnete zwar den Mund, brachte aber keine Antwort heraus.
»Vielleicht sollten wir ihm noch etwas Zeit geben«, schlug der Priester vor.
»Aber wenn Niklas ja sagt, würden Sie es tun?«, hakte Laura nach.
»Es muss doch einen bestimmten Grund geben, warum du mit der Frage ausgerechnet zu mir kommst.«
»Sie haben mich getauft, Padre Giacomo.«
»Neuntes Gebot: Du sollst nicht lügen.«
»Das neunte Gebot heißt aber …«
»Ich weiß, wie es heißt, meine Tochter. Manchmal muss man die Sache auf den Punkt bringen. Warum kommst du mit diesem Anliegen zu mir? Du weißt, dass dein Vater mich nicht sonderlich mag.«
»Ich glaube, er könnte
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