Der Herr der Unruhe
sich wie ein Phantom, wenn er durch die Straßen Nettunias schlich. Für ihn gab es ein halbes Dutzend Gründe, sich unsichtbar zu machen. Erst kürzlich war ein Junge aus Ar-mellino in der Stadt von den Deutschen aufgegriffen worden, weil er zwei Kneifzangen bei sich trug, mit denen er sein Viehgehege reparieren wollte. Die Soldaten hielten ihn für einen Saboteur, da 296
kurz zuvor jemand das Telefonkabel ihres Postens gekappt hatte.
Ein Feldwebel stellte den Jungen an eine Wand und exekutierte ihn mit drei Schüssen. Nico erfuhr von dem Vorfall, als er sich in der Via Cavour ein Brot aus Alfonso Bernardinis Bäckerei holte.
Dante Castaldi, der Bäcker, war zornrot, weil nur wenige Minuten zuvor – wie jeden Tag – der Feldwebel seine Brötchen abgeholt und erklärt hatte: »Warum sollte ich Gewissensbisse haben? Ich hab’s auf eine Weise gemacht, dass er nicht leiden musste.«
Obwohl ihm klar war, dass die meisten seiner Freunde ihn
für unpatriotisch halten mussten, wollte sich Nico nicht in den Konflikt hineinziehen lassen. Dies war nicht sein Krieg. Er hasste die Deutschen nicht. Lange genug hatte er in Wien gelebt, um das teutonische Kind nicht mit dem nationalsozialistischen Bade auszuschütten. Sein Gegner hieß Massimiliano Manzini.
Indes hatte er bereits am Tag seiner Ankunft in Nettunia bemerkt, dass ihm noch von einer dritten Seite Gefahr drohte.
Nico und sein eingeschwärzter Albino waren in der Scheune eines alten Bauern außerhalb der Stadt untergekommen. Er
hatte Domenico Amicis Traktor einmal von einem »Husten« geheilt, der sich in häufigen Fehlzündungen äußerte. Jetzt endlich konnte der Landwirt seine Schuld abtragen; gerne bot er Nico ein Quartier für die Nacht an. Noch auf dem Hof erzählte Domenico seinem Gast von Manzinis neuer Leibwache.
»Er hat jetzt immer so einen Kerl dabei: Mitte zwanzig, ver-schlagenes Gesicht, unheimlich drahtig. Manchmal begleiten ihn auch mehrere dieser Gestalten von der Banda Koch .«
»Der Name sagt mir nichts«, erwiderte Nico.
»Das sind finstere Gesellen. Wie der Name schon sagt, eine
›Bande‹ aus ehemaligen Polizisten und Geheimdienstleuten. Sie stehen auf der Seite von Mussolini und seinen deutschen Freunden. Nimm dich vor ihnen in Acht, Niklas!« Für Domenico war Nico immer noch II Tedesco, der deutsche Walzenbändiger.
»Ich werd’s mir merken. Danke.«
»Ach was! Mein Weib und ich haben dir zu danken. Junge. Seit unser Sohn in Abessinien gefallen ist, sind Gisella und ich ganz 297
allein auf dem Hol. Du hast uns beiden in einer schwierigen Lage geholfen, jetzt können wir unsere Schulden bei dir begleichen.«
Er stieß Nico mit dem Ellbogen an. »Und übrigens: In Nettunia gibt es noch viele, die genauso denken. Ich hab’s oft gehört. Du bist beliebt. Sollte dir unser Gouverneur oder Statthalter oder Podestà oder wie immer Don Massimiliano sich jetzt nennt – also wenn der dir Schwierigkeiten macht, dann wende dich an die Leute, denen du früher irgendwelche Sachen repariert hast.«
»Ich möchte niemanden in Schwierigkeiten bringen.«
»Auf eine Kameradschaft, die nur in rosigen Zeiten funktioniert, kannst du pfeifen.«
»Noch was, Domenico. Hast du eine Ahnung, wo ich die Leute von der Giustizia e Libertà finden kann?«
»Die partigiani, meinst du?«
»Partisanen? Nennen Sie sich jetzt so?«
»Nach allem, was man hört, sticheln sie die Deutschen mit häufigen Sabotageakten. Ein Freund sagte mir, dass sie irgendwo in den Pontinischen Sümpfen ihr Lager haben sollen, aber nichts Genaues weiß man nicht. Willst du dich Ihnen anschließen?«
»Nein. Ein Freund von mir ist bei ihnen. Ich würde gerne wissen, wie es ihm geht.«
»Tut mir Leid, Junge. Da kann ich dir nicht weiterhelfen.«
Nico bedankte sich und machte sich auf den Weg in die
Stadt.
Den langen Mantel hatte er inzwischen wieder gegen eine
Jacke eingetauscht. Sie war aus brauner Wolle. Dazu trug er eine farblich passende Schiebermütze. Er sah aus wie ein Hafenarbei-ter. Wegen der Seeblockade hatten die nicht mehr viel zu tun. Es würde also nicht auffallen, wenn so einer durch die Stadt stro-merte.
Weil er während seiner Zeit als Gemeindemechaniker in Nettunia so viele Herzen gewonnen hatte, musste er in dem Kampf gegen seinen Feind wenigstens nicht ganz von vorn anfangen.
Da gab es die rundliche Signora Pallotta mit ihrem Obst- und Gemüseladen gegenüber dem Palazzo Manzini, die Eltern der 298
kleinen Marianna Grilli und noch zahlreiche andere,
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