Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
selbst sagen, der, obwohl an die fünfzig, nur einen bescheidenen Bauchansatz hatte. »Ich bin ein Freund von Yancey dem Reimer«, sagte ich. »Eine Einladung hab ich nicht.«
Zu meiner Überraschung streckte er mir die Hand entgegen, um mich zu begrüßen. »Dunkan Ballantine. Ich hab auch keine Einladung.«
Ich schüttelte ihm die Hand. »Vermutlich ist die auch nicht erforderlich, wenn man Wache steht.«
»Die ist auch nicht erforderlich, um eintreten zu dürfen. Zumindest nicht für jemanden, für den Yancey gebürgt hat.«
»Ist er schon im Haus?«
»Wär doch keine Party, wenn der Reimer nicht da wär, um die Hochgeborenen zu unterhalten.« Er sah sich mit verschwörerischer Miene nach allen Seiten um. »Unter uns gesagt, hebt er sich seinen besten Stoff immer für die Pausen auf! Wahrscheinlich ist er irgendwo draußen und bereichert den Rauch, der aus der Küche kommt.« Er zwinkerte mir zu, was ich mit einem Lachen quittierte.
»Danke, Dunkan.«
»Kein Problem. Vielleicht sehen wir uns noch mal, wenn du wieder gehst.«
Ich folgte einem mit Kieseln markierten Pfad, der über den grünen Rasen zur Rückseite des Herrenhauses führte. Musik drang an mein Ohr, und die kühle Abendbrise trug den vertrauten Duft von Traumranke heran. Ersteres kam vermutlich von der Party, die Quelle des Letzteren schien mir jedoch die kleine dunkelhäutige Gestalt zu sein, die an der Mauer des dreistöckigen Gebäudes lehnte und leise vor sich hin sang.
Yancey reichte mir seinen Joint, ohne in dem perfekt synkopierten Lied innezuhalten. Das Zeug des Reimers war wie immer gut, eine süßliche, nicht übermäßig scharfe Mischung. Ich ließ silberblaue Spiralen in die Nacht aufsteigen.
Er hämmerte die letzten Takte heraus. »Sei gegrüßt.«
»Du auch, Bruder. Schön, dass du gekommen bist. Hab dich in der letzten Zeit selten gesehen.«
»Ich hab viel geschlafen. Hab ich deine Darbietung verpasst?«
»Die erste. Jetzt ist grad die Band dran. Ma lässt dich grüßen. Sie möchte wissen, warum du so lange nicht mehr bei uns warst. Ich hab gesagt, das liegt daran, weil sie dich dauernd verkuppeln will.«
»Scharfsinnig wie immer«, erwiderte ich. »Mit wem hab ich’s hier zu tun?«
Er kniff die Augen zusammen und nahm den Joint, den ich ihm hinhielt. »Das weißt du nicht?«
»Du hast mir ja nur die Adresse mitgeteilt.«
»Hier wohnt der Oberaffe höchstpersönlich, Bruder. Herzog Rojar Calabbra der Dritte, Lord Beaconfield.« Er grinste breit, sodass seine weißen Zähne in der Dunkelheit aufblitzten. »Die Lächelnde Klinge.«
Ich stieß einen leisen Pfiff aus. Jetzt wäre es mir lieber gewesen, nicht high zu sein. Die Lächelnde Klinge – berüchtigter Höfling, gefeierter Duellant und enfant terrible . Es hieß, er sei eng mit dem Kronprinzen befreundet, und er galt als der gefährlichste Schwertkämpfer, seit sich Caravollo der Unbesiegte vor dreißig Jahren die Pulsadern aufgeschnitten hatte, nachdem sein jugendlicher Geliebter am Roten Fieber gestorben war. Meistens spielte Yancey für die jüngeren Söhne kleiner Adliger und für Aristokraten mittleren Ranges, die einen Hang zum Volkstümlichen hatten. Das war ein echter Aufstieg für Yancey. »Wie hast du ihn kennengelernt?«
»Du kennst ja meine Talente. Der Mann hat irgendeine Vorstellung von mir miterlebt und mich auf der Stelle engagiert.« Übermäßige Bescheidenheit war nicht Yanceys Sache. Er stieß Rauch durch die Nase aus, der sich um sein Gesicht wölkte und seinen Kopf in eine gespenstische silberne Aura hüllte. »Die Frage ist: Warum will er dich kennenlernen?«
»Ich hatte angenommen, dass er Drogen kaufen möchte und du ihm mitgeteilt hast, dass ich dafür der richtige Mann sei. Wenn er mich herkommen lassen hat, um Tanzunterricht zu nehmen, wird er mit uns beiden nicht sonderlich zufrieden sein.«
»Ich hab dich zwar benachrichtigt, aber ich habe dich nicht ins Spiel gebracht – die haben ausdrücklich nach dir verlangt. Ehrlich gesagt, wenn ich nicht wüsste, dass ich ein Genie bin, würde ich vermuten, dass sie mich nur engagiert haben, um an dich ranzukommen.«
Diese Bemerkung reichte aus, um die gehobene Stimmung zunichtezumachen, in die mich der Joint versetzt hatte. Ich wusste nicht, warum mich der Herzog kennenlernen wollte, wusste auch nicht, wie er überhaupt erfahren hatte, wer ich war – aber wenn es etwas gab, das ich in über fünfunddreißig Jahren auf der Schattenseite des Lebens gelernt hatte, dann war es die
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