Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
derart auf die Nerven ging, dass ich schon versucht war, das Geschäft sausen zu lassen und stattdessen herauszufinden, wie die Innereien dieses verlausten Degenerierten aussahen.
»Wir nehmen das Geld«, sagte er. »Das erspart uns die Mühe, sie zu den Docks zu bringen.«
Der andere schien zu zögern, deshalb warf ich ihm den Geldbeutel vor die Füße. Als er sich bückte, um ihn aufzuheben, spielte ich mit dem Gedanken, ihm das Rasiermesser rasch ein paarmal durchs Gesicht zu ziehen, um anschließend seinen Partner auf die gleiche Weise fertigzumachen. Doch der Alte hielt immer noch das Mädchen fest, und ich war davon überzeugt, dass er sie ohne mit der Wimper zu zucken abmurksen würde. Es war besser, die Sache offen und ehrlich durchzuziehen, wobei ich nur hoffen konnte, dass sie das auch tun würden. Trotzdem schmerzte mich der Verlust meines Geldes. Es würde lange dauern, bis ich wieder einen Ockerling in die Hand bekäme, denn der arme Rob musste zwanzig Jahre in Old Farrow absitzen, weil er in einer Kneipenschlägerei einen Priester aufgeschlitzt hatte.
»Geht zum andern Ende der Gasse«, sagte ich, als sich der Jüngere mit dem Geld in der Hand aufrichtete. »Und kommt bloß nicht auf dumme Gedanken.«
Der Alte starrte mich an und verzog den Mund zu einem Grinsen, sodass seine schwarz-grünen Zähne zu sehen waren. »Hoffentlich kannst du dein Territorium auch in Zukunft gut verteidigen, junger Patron.«
»Wenn ich euch noch einmal hier erwische, schneid ich euch die Eier ab und lass euch auf der Straße verbluten.«
Erneut stieß er sein unangenehmes, verschleimtes Lachen aus und entfernte sich, gefolgt von dem Jungen. Ich blickte ihm hinterher, bis ich mir sicher war, dass sie nicht vorhatten, sich auf mich zu stürzen. Dann klappte ich das Rasiermesser zusammen und ging zu der Kleinen.
Ihre mandelförmigen Augen und ihre dunkle Hautfarbe verrieten, dass sie kirenischer Abstammung war, während die zerlumpte Kleidung und das verschmutzte Gesicht darauf schließen ließen, dass sie schon einige Nächte auf der Straße verbracht hatte. Um ihren Hals hing eine Holzkette von der Art, wie man sie im Kirenerviertel für einen halben Kupferling hatte kaufen können, bevor der Markt wegen der Seuche geschlossen worden war. Ich überlegte, wo sie sie wohl herhatte. Vermutlich war es ein Geschenk von ihrer Mutter oder ihrem Vater oder einem anderen Verwandten, der auch schon unter der Erde war.
Der Rückzug ihrer Entführer hatte wenig zu ihrer Beruhigung beigetragen, denn sie schluchzte immer noch hemmungslos. Ich ließ mich aufs Knie nieder und klatschte ihr ins Gesicht.
»Hör auf zu weinen. Das bringt nichts.«
Sie sah mich groß an und wischte sich die Nase. Die Tränen versiegten. Ich wartete, bis sie wieder regelmäßig atmete, bevor ich weiterredete.
»Wie heißt du?«
Ihr dünner Hals geriet in Bewegung, als wollte sie antworten, doch sie brachte kein Wort heraus.
»Dein Name, Kind«, sagte ich, indem ich versuchte, meiner Stimme eine gewisse Zärtlichkeit zu verleihen, obwohl das ein Gefühl war, das ich kaum kannte.
»Celia.«
»Celia«, wiederholte ich. »Ich werde dich nie wieder schlagen, verstehst du? Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde auf dich aufpassen, okay? Ich bin auf deiner Seite.«
Sie sah mich unschlüssig an. Die Zeit, die sie auf der Straße verbracht hatte, hatte ihr offenbar kein allzu großes Vertrauen zu ihren Mitmenschen eingeflößt.
Ich stand auf und nahm sie bei der Hand. »Komm. Ich bring dich an einen Ort, wo du es warm hast.«
Es fing an zu nieseln, dann zu regnen. Meine dünne Jacke war bald durchgeweicht, sodass sich die Kleine mit ihrem zerlumpten Kleid begnügen musste. Eine Zeit lang gingen wir schweigend nebeneinanderher. Obwohl der Sturm ihren mageren Körper peitschte, brach Celia nicht in Tränen aus.
Der Magierhorst war damals schon fertiggestellt und ragte azurblau in den Himmel, während sich der umliegende Irrgarten noch im Bau befand. Wir mussten uns durch hundert Meter aufgewühlten Schlamms kämpfen, keine leichte Aufgabe für die kurzen Beine eines kleinen Kindes – obwohl sie kaum darauf achtete, da ihr Blick in ehrfürchtigem Staunen auf den Turm gerichtet war.
Vor fünf Wochen hatte die gesamte Einwohnerschaft der Unterstadt zusammen mit Scharen von Besuchern aus anderen Stadtteilen unter der Aufsicht der Stadtwache den Einzug Blaureihers in sein neues Zuhause gefeiert. Ich hatte aus der Ferne beobachtet, wie eine
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