Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
dir andere diesen Quatsch abkaufen, aber ich weiß, warum du kein Ermittlungsbeamter mehr bist. Jedenfalls nicht deshalb, weil du nicht bereit warst zu spuren.«
Ich dachte darüber nach, wie vergnüglich es sein würde, auf diese makellose graue Uniform einzutreten. »Ich habe nichts vergessen, keine Bange. Ich kann mich auch noch erinnern, wie du mit allen anderen tatenlos danebengestanden hast, als mein Name von der Dienstliste gestrichen und mein Auge der Krone zerschmettert wurde.«
»Das ging nicht anders. Ich hatte dich davor gewarnt, zur Spezialabteilung überzuwechseln, und dir immer wieder davon abgeraten, dich mit dieser Frau einzulassen.«
»Der vorsichtige, verantwortungsbewusste Crispin. Wirble keinen Staub auf, sieh nichts, was du nicht sehen sollst. Du bist noch schlimmer als Crowley – der steht wenigstens ehrlich zu dem, was er ist.«
»Du hast es dir leicht gemacht. Du brauchtest dich nie abzurackern, du brauchtest niemals schwierige Entscheidungen zu treffen. Ich habe durchgehalten – ich bin nicht vollkommen, nein, aber immerhin habe ich als Rädchen im Getriebe mehr Gutes bewirkt als du, wenn du Gift verkaufst.«
Ich merkte, wie sich meine Fäuste ballten, und musste gegen den Drang ankämpfen, sie Crispin ins Gesicht zu drücken. Dem finsteren Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen ging es ihm genauso. »Fünfzehn Jahre lang Dreckarbeit«, sagte ich. »Man sollte dir eine Medaille verleihen.«
Wir maßen uns mit durchdringenden Blicken und warteten ab, ob unsere Auseinandersetzung in Gewalt umschlagen würde. Er gab als Erster nach. »Lassen wir das. Ich werde dir die Liste besorgen, dann sind wir fertig miteinander. Ich bin dir nichts schuldig. Wenn du mir je auf der Straße begegnest, dann verhalte dich so wie gegenüber jedem anderen Ermittlungsbeamten.«
»Das heißt, ich soll ausspucken?«
Er rieb sich die Stirn, sagte aber nichts.
»Wenn du die Liste hast, schick sie zum Torkelnden Grafen .« Ich ging zur Brücke zurück und pflückte Zeisig vom Geländer. »Komm.«
Als wir halb über die Brücke waren, gab der Junge eine weitere Probe seiner neu erworbenen Redseligkeit. »Wer war das?«
»Mein ehemaliger Partner.«
»Warum hat er dich angebrüllt?«
»Weil er ein Arschloch ist.«
Zeisig musste einen Zahn zulegen, hielt aber trotzdem mit mir Schritt. »Warum hast du ihn angebrüllt?«
»Weil ich ebenfalls ein Arschloch bin.«
»Wird er uns helfen?«
»Ja.«
»Warum?«
»Als du noch nicht so viel geredet hast, warst du ein angenehmerer Begleiter«, erwiderte ich.
Ich warf einen letzten Blick auf Crispin, der sich gerade über die Leiche beugte, um sich irgendetwas genauer anzusehen. Ich hatte einige Dinge gesagt, die ich bereute, dachte aber, dass ich die Gelegenheit haben würde, mich zu entschuldigen, auch wenn ich darin keine große Übung hatte. Da lag ich jedoch falsch. Ich habe schon bei vielen Dingen falschgelegen, aber in dem Fall tut es besonders weh.
18
Als ich Celia eines Nachts fand, lebte ich schon vier Jahre auf der Straße. Damals muss ich zehn gewesen sein, vielleicht auch ein bisschen älter – man neigt dazu, seinen Geburtstag zu vergessen, wenn man keine Familie hat, mit der man ihn feiern kann. Das war, nachdem Blaureiher seinen Schutzzauber gewirkt hatte, sodass sich die Leichen der Fieberopfer nicht mehr wie Klafterholz in den Straßen stapelten. Trotzdem herrschte in der Unterstadt nach wie vor weitgehend Anarchie. Nachts zog sich die Stadtwache aus dem Viertel zurück, und wenn sie wiederkam, dann nur in großer Zahl. Selbst die Syndikate ließen uns in Ruhe, wahrscheinlich weil es bei uns nicht viel zu holen gab.
Seinerzeit hatte das Viertel etwas Gespenstisches und Einsames. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis die Einwohnerzahl wieder so hoch war wie vor der Seuche, und noch Jahre danach gab es Stadtteile, durch die man eine halbe Stunde lang gehen konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Das machte es leicht, einen Platz zum Schlafen zu finden – man brauchte bloß ein leeres Gebäude ausfindig zu machen, ein Fenster einzuwerfen und hineinzukriechen. Wenn man Glück hatte, waren die Wohnungsinhaber geflohen oder irgendwo anders gestorben. Es konnte aber auch passieren, dass man den Raum mit einer Leiche teilen musste. Das eine wie das andere war immerhin besser als eine Nacht draußen in der Kälte.
Nie wieder würde ich ein derart verrücktes, unbekümmertes Leben führen wie in diesen ersten Jahren auf der Straße. Alles, was
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