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Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Titel: Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Polansky
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erpicht darauf, sie in ihrem Kummer zu stören.
    Der Koboldatem riss mich aus meiner morgendlichen Lethargie. Ich schnappte mir meinen Mantel und ging nach unten.
    Zeisig wartete am Fuße der Treppe auf mich. »Sie ist allein. Die Polizei ist wieder weg.«
    Ich nickte, und er folgte mir nach draußen.
    Im Winter ist die Unterstadt ein elender Ort. Nicht ganz so schlimm wie im Sommer zwar, wenn die Luft von Ruß erfüllt ist und in der heißen Sonne allerlei vor sich hin fault, aber trotzdem ziemlich schauderhaft. An den meisten Tagen liegt der Rauch aus den Fabriken wie eine Dunstglocke über dem Viertel, sodass die Lungen mit doppelter Kraft arbeiten müssen.
    Ab und zu kommt jedoch ein kräftiger Südwind von den Bergen und vertreibt den Dunst, der die Stadt einhüllt. Die Sonne strahlt jenes helle, klare Licht aus, das sie manchmal statt Wärme von sich gibt, sodass man freie Sicht hat und bis zu den Docks blicken kann. Tage wie diesen kannte ich aus meiner Kindheit, als noch jede Mauer darauf gewartet hatte, erklommen zu werden, und jedes leere Gebäude unbedingt hatte erkundet werden müssen.
    »Kanntest du ihn?«, fragte Zeisig.
    Richtig. Wir machten keinen Morgenspaziergang, nicht wahr? »Nicht wirklich. Meskie hat eine ganze Horde von Kindern«, erklärte ich.
    »In der Unterstadt gibt’s sicher eine Menge Kinder, was?«
    »Kann man wohl sagen.«
    »Warum gerade er?«
    »Gute Frage.«
    Ich war schon ein- oder zweimal bei Meskie gewesen, um ihr im Auftrag von Adeline etwas zu bringen. Sie hatte mich immer zu einer Tasse Kaffee eingeladen, eigentlich förmlich dazu genötigt. Ihr Haus war klein, aber gut in Schuss, und ihre Kinder waren von nie nachlassender Höflichkeit. Ich versuchte, mir im Geiste ein Bild von Avraham zu machen, was mir aber nicht gelang. Vielleicht war ich gestern sogar an ihm vorbeigegangen, ohne es zu wissen.
    Wäre Avraham tot gewesen, so wäre das Haus voller Trauergäste und weinender Frauen gewesen, und es hätte Unmengen an frisch zubereitetem Essen gegeben. Da er aber nur vermisst wurde, wussten die Nachbarn nicht, wie sie sich verhalten sollten, denn die üblichen Beileidsbekundungen wären verfrüht gewesen. Deshalb standen nur Meskies fünf Töchter vor dem Haus, als ich mich näherte. Sie blickten auf und sahen mich schweigend an.
    »Hi, Mädels. Ist eure Mutter zu Hause?«
    Die Älteste nickte, wobei ihr pechschwarzes Haar auf und ab wippte. »In der Küche.«
    »Warte hier bei Mrs.   Mayanas Töchtern, mein Junge. Ich bin gleich wieder da.«
    Zeisig war offenbar unbehaglich zumute. Domestizierte Kinder stellten eine andere Spezies für ihn dar. Ihre trivialen Spiele waren ihm unverständlich, ihr freundliches Geplapper seinen Ohren fremd. Die harte Kindheit, die er hinter sich hatte, hatte ihn anders geprägt, und niemand hält rigoroser am Status quo fest als Heranwachsende.
    Trotzdem würde er das Ganze ein paar Minuten ertragen müssen. Bei dieser heiklen Angelegenheit konnte ich keinen Teenager an meiner Seite brauchen.
    Ich klopfte sachte an. Als keine Antwort erfolgte, öffnete ich die Tür und trat ein. Drinnen herrschte Dunkelheit, da die Wandleuchter nicht an und die Jalousien heruntergelassen waren. Ein kurzer Korridor führte in die Küche, wo ich Meskie erblickte, die über den Tisch gebeugt dasaß. Ihre dunkle Haut hob sich wie ein Tintenfleck von dem blank gescheuerten Holz ab. Ich räusperte mich laut, doch entweder hörte sie mich gar nicht, oder es fiel ihr zu schwer zu reagieren.
    »Hi, Meskie.«
    Sie neigte leicht den Kopf. »Schön, dich zu sehen«, sagte sie, obwohl ihr Ton das Gegenteil ausdrückte. »Aber leider kann ich mich heute nicht um die Wäsche kümmern.« Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch ihre Augen waren klar, ihre Stimme fest.
    Ich nahm all meinen Mut zusammen und fuhr fort: »Ich bin dabei, die Dinge zu untersuchen, die sich in den letzten Wochen in unserem Viertel zugetragen haben.« Sie gab keine Antwort. Was auch okay war. Schließlich war ich bei ihr eingedrungen – sodass es angebracht schien, erst einmal die Karten auf den Tisch zu legen. »Ich bin derjenige, der Tara gefunden hat. Wusstest du das?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Ich versuchte, mir eine Erklärung auszudenken, warum ich an ihre Tür geklopft hatte, warum ich, den sie doch kaum kannte, in ihre Privatsphäre eindrang, um sie über ein Kind auszufragen, das wahrscheinlich längst tot war. »Wir müssen uns um die Unseren kümmern, so gut wir es

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