Der Herr der zerstörten Seelen
die sie so gut kannte, da war der dunkle, intensive, fragende Blick.
Noch immer empfand Kati nichts als dieselbe warme, stumpfe, fast zufriedene Gelassenheit.
»Es ist die Welt, aus der du kommst.« Retos Stimme.
»Nun betrittst du eine neue … Es ist, als würdest du neu geboren … Das bringt manchmal Schmerzen mit … Deshalb sind die ersten Tage im Alpha-Kurs für viele so schwer … Soll ich dir sagen, was der große Feind dabei ist? Dein Ich, dieses elende Ich, das Wort, der Begriff ›Ich‹. Vergiß es. Bring es zum Schweigen. Das Ich ist es, was dich belastet. Laß den Körper, laß jede Zelle in dir singen, aber laß nicht zu, daß dein Kopf sich einmischt. Ja, bring ihn endlich zum Schweigen! Bring ihn zum Schweigen und trinke deinen Tee …«
Gehorsam streckte Kati die rechte Hand aus.
Bei jeder Sitzung stand auf einem kleinen Tisch neben dem Sessel eine Tasse. Kati hätte sie nicht einmal beschreiben können, denn Reto stellte sie dort ab, wenn der Raum bereits verdunkelt war.
Doch sie ließ die Hand wieder sinken.
Kati wußte nicht, wieso, es war wie ein Reflex …
Sie hatte mit Übelkeit zu kämpfen, die aus dem Magen hochkroch, mit einem kreisenden, schmerzhaften Druck im Nacken, mit ihrem Herzen, das hart und schnell zu hämmern begann. Schweiß brach an ihren Schläfen aus.
Und dann kam der Gedanke …
Kati stand auf. Sie hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten.
»Was ist?« Die Frage kam scharf und hart. Kati achtete nicht darauf. Die ersten Schritte machten ihr Schwierigkeiten, dann war sie an der Tür, sie öffnete sie, taumelte ins Freie, kniff die Augen zusammen unter dem jähen Einbruch des Lichts, überlegte auch jetzt nicht, sondern ging weiter, begann zu laufen.
»Kati!« Das war Reto.
Laß ihn brüllen. Weiter …
Sie fühlte ihren Brustkorb wie eine Umklammerung und rannte trotzdem dem Schloß, den Gebäuden entgegen.
Das Atmen machte Schwierigkeiten, doch endlich wurde der Gedanke zur Klarheit: Toni! Was hatte Toni damals in der Nacht gesagt? »Die geben uns irgend etwas, Kati …«
Irgend etwas? Was immer das war, was immer sie gaben – es war im Tee!
Tennhaff sah sie vom Fenster seines Büros aus über den Hof kommen. Kati machte den Eindruck, als wolle sie laufen und kämpfe dabei mit ihrem Gleichgewicht.
»Ich bin gleich wieder da!« rief er seinem Assistenten zu. Topitz, der auf seinem Laptop herumhämmerte, hob den Kopf. »Was ist?«
»Oh, nichts«, sagte Tennhaff. »Mach du mal weiter.«
Er rannte die Treppe hinab. Er war bereits im Flur, als er Stimmen hörte. Einer der Leute aus der Administration hatte Kati aufgehalten und hielt sie fest. »Du weißt doch, daß du hier nicht ohne Erlaubnis …«
»Ist schon gut.« Tennhaff schob den Mann zur Seite und führte Kati aus dem Haus. Er mußte sie stützen. Sie stand an die Wand gelehnt, das Gesicht blaß, die Augen weit geöffnet, die Unterlippe zitterte wie bei einem kranken Kind. »Was ist los, Kati? – Komm.«
»Robert …« Sie keuchte.
»Beruhige dich erst mal.«
»Robert … O Robert … Ich weiß jetzt … Ich … ich weiß es ganz genau. Es ist der Tee …«
»Welcher Tee?«
»Toni hat ihn auch getrunken. Der Tee hat sie krank gemacht … Und er gibt ihn bei jeder Sitzung …«
»Reto?«
»Ja, Reto. Warum nur, warum tut er so etwas?«
Der verdammte Brandfleck blieb …
Sooft Hanne auch hinausrannte, um ihn mit ihrem Arsenal von Putzmitteln zu bekämpfen, es nützte nichts.
»Das bleicht schon aus, Frau Folkert. Und wenn mal die Sonne kommt …«
Sie kam nicht.
Manchmal, wenn Do so am Fenster stand und über den grauverhangenen See blickte, glaubte sie verrückt zu werden: Es war, als sei alles, ihr Leben, die Zeit, der Ablauf der Tage, ihre ganze Wirklichkeit in tausend Splitter zerfallen, in eine Art Horror-Puzzle, auf dessen Einzelteilen sie zwar Vertrautes sah, doch ohne einen Zusammenhang zu erkennen.
Sie hatte mit Jan geredet, stundenlang. Er hatte Termine abgesagt, war zu ihr herausgefahren und hatte auf sie eingesprochen. Sie hatte sich mit zwei Anwälten beraten. Den einen, Pfennigroth, kannte Do aus Verlagsprozessen. Der andere, Thomas Gabert, war ein Strafverteidiger, der sich bei einem Verfahren gegen die Scientologen hervorgetan hatte. Do ließ sich außerdem beim Sektenbeauftragten der evangelischen Landeskirche anmelden und diskutierte zwei Stunden mit dessen Assistenten.
Das Resultat war das gleiche: »Ja, wenn es die Scientologen wären – aber die GW? Wissen
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