Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Herr des Traumreichs

Der Herr des Traumreichs

Titel: Der Herr des Traumreichs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Douglass
Vom Netzwerk:
war.
    Er atmete tief durch, dann machte er sich ans Werk.
    Der Wasserträger hatte die Eimer neben ihm abgestellt. Garth wusch dem Sträfling sorgfältig den teerhaltigen Glommstaub und das Blut vom Knie – und war tief betroffen, als unter den schwarzen Schichten kränklich blasse Haut zum Vorschein kam. Als alles sauber war, stellte der junge Heiler fest, daß die Verletzung nicht so schlimm war, wie er zunächst vermutet hatte. Mehrere tiefe Fleischwunden, aber keine Quetschung. Er griff hinter sich, holte Nadel, Nadelhalter und Faden aus seiner Tasche und flickte den Mann wieder zusammen.
    Dann legte er ihm die Hände um das Knie.
    Der Sträfling machte große Augen und regte sich zum ersten Mal. »Ihr habt die ›Hände‹!« murmelte er so laut, daß die ganze Kolonne es hörte.
    Garth versuchte zu lächeln, aber die abgrundtiefe Traurigkeit, die durch die Haut des Sträflings in ihn einströmte, machte es ihm fast unmöglich. So etwas hatte er noch nie zuvor gespürt.
    Bösartige Geschwülste, gewiß, auch Schmerzen oder heftige Entzündungen – aber überwältigende Traurigkeit? Er erkannte, daß die Verzweiflung in den Adern wie eine chronische Krankheit war. Sie war dem Mann buchstäblich in Fleisch und Blut übergegangen.
    Er ertrug es nicht länger und löste die Hände von dem verletzten Knie. Aber der Sträfling beugte sich vor und berührte sie kurz. »Danke«, flüsterte er.
    Garth schossen die Tränen in den Augen. Er mußte sie erst fortblinzeln, bevor er sich dem nächsten Patienten zuwenden konnte.

    Die Wärter langweilten sich und hatten sich im Kreis auf den Boden gehockt, um sich mit einem Würfelspiel die Zeit zu vertreiben.
    Garth konnte nicht einschätzen, wie lange er schon arbeitete.
    Schweigend nahm er sich einen Gefangenen nach dem anderen vor. Alle waren mehr oder weniger schwer verletzt; zwei hatten sich die Arme gebrochen, als sie versuchten, sich vor dem einstürzenden Fels zu schützen; einer hatte ein Loch im Schädel (er war so schläfrig und teilnahmslos, daß er diese Welt wohl bald verlassen würde – zumindest für ihn war die Erlösung nahe); ein weiterer hatte sich mehrere Zähne ausgeschlagen, seine Nase war gebrochen und stand schief.
    Garth legte allen die Hände auf und spendete ihnen so viel Trost und Kraft, wie er nur konnte.
    Und jedesmal schlug ihm diese abgrundtiefe, schier erdrückende Traurigkeit entgegen. Sie war wie ein Teil ihres Wesens.
    Endlich war er beim letzten Sträfling angekommen. Der Mann hatte eine klaffende Wunde über dem rechten Ellbogen.
    Garth zog sich den zweiten Wassereimer heran. Er war fast leer. Nun hieß es sparsam sein.
    Er wrang das Tuch aus, das inzwischen blutdurchtränkt war, und tupfte den verletzten Arm vorsichtig ab. Auch diesmal überraschte es ihn, unter dem vielen Schmutz auf weiße Haut zu stoßen. Der Mann zuckte, Garth sah ihm ins Gesicht. Er hatte feinere Züge als die anderen. Besonders auffallend war die Adlernase. Das Haar schien von Natur aus schwarz zu sein.
    Als ihre Blicke sich trafen, fuhr Garth zurück. In den tiefblauen Augen stand das nackte Elend.
    Bei diesem Mann würde die Traurigkeit am stärksten sein.
    Er beugte sich wieder über den Arm. Der Bereich um die Verletzung herum war jetzt halbwegs sauber… aber was war das? Eine Schürfwunde? Er reinigte die Haut etwas weiter oben über dem Armmuskel. Da war etwas… aha! Eine alte Narbe. Garth sah sie sich genauer an.
    »Eine Brandverletzung«, murmelte er. »Aber schon alt. Wie seid Ihr denn dazu gekommen?«
    Aber der Mann drehte den Kopf zur Seite, und Garth säuberte schweigend auch den Rest des Narbengewebes, das fast den ganzen Bereich unterhalb der Schulter bedeckte. Ihr Götter, der Mann kann von Glück reden, daß er noch lebt, dachte er.
    Die Wunde hatte sich sicher entzündet. Anstatt sich um die frische Verletzung zu kümmern, legte er, mehr aus Neugier, die Hände auf die alte Narbe, um festzustellen, wie tief sie ging.
    Was er unter dem verhärteten Gewebe spürte, sollte sein ganzes Leben verändern.

    Sträfling Nummer Achthundertneunundfünfzig
    Garth wußte sofort, was es war. Erst vor drei Tagen hatte er zum letzten Mal diesen… Unterschied gespürt. Die Tinte, mit der dem Thronerben das Bild des Manteceros in den Arm geritzt wurde, verband sich mit dem Gewebe und veränderte es.
    Sie hatte Cavors Gewebe verändert.
    Und sie hatte auch dieses Gewebe verändert.
    Ein Zittern durchlief seine Hände, und der Mann wandte sich ihm wieder zu.

Weitere Kostenlose Bücher