Der heulende Müller
langen Man
nes und setzte sich langsam tief unten im Magen ab. Huttunen verspürte sofort echtes Wohlbehagen und ein Gefühl achtungsvoller Kameradschaft für den Doktor. Der plauderte über Hasenjagd und die dafür geeigneten Hunde. Dann zeigte er Huttunen seine Jagdwaffen, die eine ganze Wand einnahmen: ein schweres Jagdgewehr, ein aus einem japanischen Soldatengewehr gefertigter zierlicher Stutzen, ein Kleinkalibergewehr und noch zwei Flinten.
»Ich besitze bloß eine einläufige russische Flinte«, sag-te Huttunen bescheiden. »Aber ich wollte mir eigentlich für den nächsten Herbst einen Drilling anschaffen. Ich bin schon im Winter beim Kommissar wegen der Ge
nehmigung gewesen, aber er hat mir keine gegeben. Er hat gesagt, die Flinte müßte mir eigentlich auch abge nommen werden. Hab’ keine Ahnung, warum. Aber ich bin sowieso mehr Angler.«
Ervinen hängte seine Waffen wieder an die Wand. Dann leerte er sein Glas und fragte förmlich:
»Was führt Sie denn nun zu mir?«
»Na ja, die Leute sagen doch alle, ich sei verrückt… was weiß ich.«
Ervinen setzte sich in seinen Schaukelstuhl, der mit einem Bärenfell ausgelegt war, und musterte Huttunen prüfend. Dann nickte er und sagte freundlich:
»Das mag schon stimmen. Ich bin nur ein gewöhnli cher Allgemeinmediziner, aber ich gehe wohl nicht ganz fehl, wenn ich diagnostiziere, daß Sie ein Neurastheni ker sind.«
Huttunen fühlte sich unbehaglich. Es war so peinlich, über diese Dinge zu reden. Er wußte ja und gab es zu, daß er nicht ganz normal war, er hatte es immer ge wußt. Aber was, zum Teufel, ging das andere an? Neur astheniker… schon möglich. Na und?
»Gibt es gegen diese Art von Krankheit Tabletten? Schreiben Sie mir doch ein Röhrchen davon auf, Doktor, damit sich die Leute im Dorf beruhigen.«
Ervinen dachte, was für einen rührenden Fall er da vor sich hatte, – einen Mann aus dem Volk, der an einer angeborenen Nervenkrankheit litt, leicht, aber dennoch augenfällig. Was konnte er als Arzt da machen? Über haupt nichts. Der Mann sollte heiraten und die ganze Sache vergessen. Aber wo nimmt ein Verrückter eine Frau her? Die Frauen fürchten sich ohnehin vor einem so großen Mann.
»Als Arzt möchte ich Sie mal fragen… Ist da was dran, daß Sie die Angewohnheit haben, nachts zu heulen, besonders im Winter?«
»Das ist im vergangenen Winter tatsächlich ein paar mal vorgekommen«, gab Huttunen beschämt zu.
»Was veranlaßt Sie denn dazu? Ist es eine Zwangs handlung, können Sie nicht anders?«
Huttunen hätte am liebsten die Flucht ergriffen, doch als Ervinen erneut fragte, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu antworten:
»Es kommt… ganz automatisch. Zuerst kriege ich ein Verlangen zu brüllen. Im Kopf ist ein Druck, der einfach raus muß. Ein richtiger Zwang ist es nicht, es passiert einfach, wenn ich allein bin. Es erleichtert mich jedes mal. Schon ein paar Laute helfen.«
Ervinen kam auf Huttunens Gewohnheit zu sprechen, Tiere und Menschen nachzuahmen. Woher kam die? Was beabsichtigte der Müller mit diesem Verhalten?
»Manchmal bin ich einfach so ausgelassen, ich möch te dann Spaß machen, aber es ist wohl oft ziemlich albern. Die meiste Zeit bin ich aber bedrückt, das mit dem Spaßmachen kommt nicht sehr oft vor.«
»Und wenn Sie bedrückt sind, möchten Sie heulen«, sagte Ervinen nachdrücklich.
»Ja, dann hilft es mir.«
»Haben Sie die Angewohnheit, mit sich selbst zu reden?«
»In fröhlicher Stimmung kommt es schon mal vor«, gestand Huttunen.
Ervinen trat an seinen Eckschrank und entnahm ein kleines Röhrchen, das er Huttunen reichte. Er erklärte ihm, es enthalte Tabletten, die er einnehmen solle, wenn er sich besonders niedergeschlagen fühle, doch müsse er aufpassen und nicht zuviel einnehmen. Eine Tablette am Tag genüge.
»Sie stammen noch aus der Kriegszeit. Heutzutage kriegt man die gar nicht mehr. Nehmen Sie davon nur im Notfall, sie sind sehr wirksam. Also nur dann, wenn Sie besonders starke Lust zum Heulen verspüren.«
Huttunen steckte das Röhrchen ein und schickte sich zum Aufbruch an. Ervinen sagte jedoch, er beabsichtige noch nicht, schlafen zu gehen, sein Gast möge ruhig noch ein zweites Glas trinken. Er goß Huttunen und auch sich selbst Spiritus nach.
Die Männer tranken schweigend. Dann fing Ervinen wieder von der Jagd an. Er erzählte, vor dem Krieg sei er einmal im Spätwinter in Turtola zur Jagd gewesen. Er habe zwei karelische Bärenhunde
Weitere Kostenlose Bücher