Der heulende Müller
schob der Pfleger die Ärmel hoch, riß dem Patienten die Kinnlade auf und stopfte ihm die Tabletten in den Rachen. Jeder mußte etwas einnehmen, ob er wollte oder nicht. Als Huttunen fragte, warum er keine Medizin bekomme, knurrte der Pfleger wütend:
»Montag schreibt dir der Arzt was auf. Benimm dich bis dahin anständig, sonst kommst du zu den Unruhi gen.«
Huttunen erkundigte sich, wie es dort sei. »Na unruhig eben: so!«
Der Pfleger schwenkte seine behaarte Faust unter Huttunens Nase. Der wandte sich ab. Er verabscheute diesen unangenehmen und gewalttätigen Kerl, der abends die Patienten stieß und schubste, wenn sie nicht gleich auf Befehl ins Bett sprangen. Er nahm sich vor, wenn er am Montag mit dem Arzt gesprochen hätte und nach Hause dürfte, würde er sich zum Abschied den ungehobelten Pfleger greifen und mit ihm den Flur blank bohnern. Doch bis dahin empfahl es sich, Ruhe zu bewahren.
Am Montag wurde Huttunen dem Arzt vorgeführt. Dieser war ein bärtiger, schmuddelig wirkender Mann, der die Angewohnheit hatte, ständig seine Brille auf und abzusetzen. Immer wieder zog er ein schmutziges Taschentuch heraus und wischte damit sorgfältig die Gläser, er behauchte sie und rieb sie eine Ewigkeit lang trocken. Huttunen stellte fest, daß der Anstaltsarzt ein nervöser, unordentlicher Mann war und einen be schränkten Eindruck machte.
Huttunen fing an, von Heimfahrt zu reden. Der Arzt blätterte in den Papieren, die vor ihm lagen, und sagte barsch:
»Sie sind ja gerade erst eingeliefert worden. Hier wird niemand sofort wieder entlassen.«
»Aber ich bin doch eigentlich gar nicht verrückt«, ver suchte Huttunen mit möglichst gesunder Stimme zu erklären.
»Natürlich nicht. Wer wäre das schon in diesem Haus? Ich bin hier der einzige Geistesgestörte, das ist bekannt.«
Huttunen erzählte, er sei Müller und man brauche ihn dringend in Suukoski. Jetzt im Sommer müsse die Mühle instand gesetzt werden, damit sie im Herbst einsatzbereit sei.
Der Arzt fragte, warum die Mühle ausgerechnet zum Herbst in Ordnung sein müsse.
»Ja, sehen Sie, in Finnland ist im Herbst Erntezeit. Die Bauern bringen dann ihr Korn in die Mühle zum Mahlen.«
Den Arzt amüsierte die Antwort des Müllers. Er nahm die Brille ab, putzte sie und nickte verständnisvoll. Als er die Brille wieder auf der Nase hatte, äußerte er ziem lich schroff:
»Wir wollen uns mal darauf einigen, daß Sie vorläufig ausgemahlen haben.«
Er erkundigte sich, ob Huttunen im Krieg gewesen sei. Als er eine bejahende Antwort erhielt, blitzte in seinen Augen ein wissender Funke auf. Er fragte, in welcher Gegend der Patient gekämpft habe. Huttunen berichtete, er sei während des Winterkrieges in der Karelischen Landenge und in der letzten Kriegsphase in Ostkarelien gewesen.
»An vorderster Frontlinie?«
»Ja… stimmt.«
»War es sehr hart?«
»Ab und zu.«
Der Arzt notierte etwas auf seinem Schreibblock. Halb zu sich selbst murmelte er:
»Kriegspsychose… wie ich mir schon dachte.« Huttunen versuchte zu widersprechen – er erklärte, er
habe während des Krieges keinerlei Störung an den Nerven gehabt und habe sie eigentlich auch jetzt nicht. Aber der Arzt winkte ihm, sich zu entfernen. Als Huttu nen wieder auf Entlassung drängte, blickte der Arzt von seinen Papieren auf und verkündete:
»Diese Fälle von Kriegspsychose sind ernst… beson ders wenn sie erst so viele Jahre nach den eigentlichen Kämpfen auftreten. Hier ist eine längere Behandlung erforderlich, aber seien Sie unbesorgt, wir werden noch einen Mann aus Ihnen machen.«
Die Pfleger führten Huttunen auf seine Station zurück und schlossen mit einem Knall die Tür hinter ihm.
Müde setzte sich Huttunen aufs Bett. Er stellte fest, daß sein Leben nun endgültig in eine Sackgasse geraten war: er war in dieser unmenschlichen Anstalt gefangen, der Willkür eines bornierten Arztes ausgeliefert, zum trostlosen Zusammenleben mit seinen trübsinnigen Mitpatienten verurteilt. Womöglich würde man ihn jahrelang hier festhalten. Vielleicht würde er zwischen diesen Steinmauern sterben? Sein einziges Vergnügen wären von nun an die keifende Putzfrau und der gewalt tätige Pfleger. Abwechslung in den täglichen Trott bräch ten lediglich die Besuche auf der bewachten Toilette oder die saumäßigen Mahlzeiten. Schwer seufzend legte er sich nieder und schloß die Augen. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Huttunen verspürte einen Druck im Kopf, ihn
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