Der Hexer - NR10 - Wenn der Stahlwolf erwacht
bedeuten hat«
»Dann sag es mir!« verlangte Howard.
Ich schüttelte den Kopf, löste den letzten Lederriemen und schwang mich auf den Rücken der Stute. »Das kann ich nicht«, sagte ich. »Nicht jetzt. Es geht um Sekunden, Howard.«
Ich wollte losreiten, aber Howard fiel mir wütend in die Zügel. »Ich begleite dich«, sagte er, aber wieder schüttelte ich den Kopf und schlug seine Hand beiseite. »Das geht nicht«, sagte ich hastig. »Bitte, Howard – vertrau mir. Du mußt hierbleiben. Kümmere dich um Cohen und erkläre ihm alles, was nötig ist, sobald er wieder zu sich kommt. Du mußt hierbleiben.«
»Warum?« fragte Howard wütend.
Ich griff nach den Zügeln und zwang das Pferd, auf der Stelle kehrt zu machen, ritt aber noch nicht los, sondern sah noch einmal zu Cohen und Rowlf hinüber. »Er ist der einzige, der dir glauben wird, nach allem, was jetzt passiert ist«, sagte ich. »Wenigstens hoffe ich das. Was wir gerade erlebt haben, war nur der Anfang, Howard. Ihr müßt ihren Anführer suchen.«
»Ihren – was??« ächzte Howard.
»Das Wesen, das für das alles hier verantwortlich ist. Sucht die Albinoratte. Sie ist irgendwo in der Kanalisation, mehr weiß ich auch nicht. Sucht sie und bringt sie um, ehe sie die ganze Stadt verwüstet.«
Ehe Howard antworten konnte, sandte ich einen lautlosen Befehl in das Gehirn der Stute. Sekunden später galoppierte ich wie von Furien gehetzt durch die Londoner Innenstadt nach Osten.
* * *
Lange, sehr lange, nachdem das Mädchen zu Ende gekommen war, das Cindys Gesicht und Cindys Körper hatte, das mit ihrer Stimme sprach und ihr Lachen lachte und doch nicht Cindy war, blieb es sehr still. Selbst das Geräusch des Windes, der von der See her blies und in den Wipfeln der hohen Ulmen spielte, die den Friedhof von St. Aimes säumten, schien gedämpfter geworden zu sein. Es war, als hielte nun auch die Natur den Atem an vor dem Schrecken, den die Worte des dunkelhaarigen Mädchens heraufbeschworen hatten.
Lady Audley starrte unverwandt in das Grab hinab. Das grüne Licht war zu einem kaum noch sichtbaren Schein herabgesunken, der schwarze, krakenarmige Ball in seiner Mitte wenig mehr als ein Schatten, aber sie spürte trotzdem das düstere, brodelnde Leben, das unter ihr heranwuchs. Obgleich seine Bewegungen schwächer wurden, wuchs die Gier, die sie wie ein saugendes Etwas in ihrer Seele spürte, mit jedem Moment.
»Warum hast du mir das alles erzählt?« fragte sie schließlich. Sie erschrak fast vor dem Klang ihrer eigenen Stimme.
Cindy blickte sie voller Trauer und Wehmut an. »Dieser Ort ist mehr als ein Friedhof«, sagte sie. »Du wußtest es nicht, damals, als du meinen Körper hier beerdigen ließest; nur die allerwenigsten wissen es, und die Lippen derer, die die Wahrheit ahnen, sind auf ewig verschlossen. Aber dieser Boden ist heilig. Er war geweiht, lange bevor die Christen dieses Land in Beschlag nahmen. Die Kelten setzten ihre Toten an diesem geheiligten Fleck nieder, und vor ihnen andere; Völker, deren Namen und Geschichten aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt sind.«
Audley schauderte. Die Worte des Mädchens schienen ein tiefes, längst vergessenes Wissen in ihr zu berühren, als erinnere sie sich an Dinge, die sie niemals erlebt hatte. Ihr Blick tastete an den geschändeten Grabreihen entlang und suchte die beiden gewaltigen eisernen Wolfsfiguren, die das Tor flankierten. Sie entstammten keiner Kunstrichtung, die Lady Audley jemals gesehen hatte und erschienen ihr gleichzeitig barbarisch und roh wie von unglaublicher Kunstfertigkeit. Und sie waren alt, unglaublich alt. Ohne, daß es einer weiteren Erklärung bedurft hätte, spürte sie einfach, daß Cindy die Wahrheit sagte. Dies war ein Ort düsterer, verborgener Magie.
»Nicht einmal ich weiß, was geschähe, würde ER erwachen, ohne daß die richtigen Vorbereitungen getroffen sind«, fuhr das Mädchen fort. »Wir sind seine Diener, doch ist es auch unsere Aufgabe, über ihn zu wachen, denn ER ist anders als die anderen. ER ist schrecklich in seinem Zorn und gewaltig in seiner Macht, und doch ist ER nur wie ein Kind, das nicht weiß, was es tut und Schaden anrichten mag, wenn niemand da ist, der seine Schritte lenkt.«
Sie stockte, und wieder war dieser fast flehende Unterton in ihrer Stimme, als sie weitersprach. »Das ist der Grund, aus dem wir dich brauchen.«
»Du verlangst... viel«, sagte Audley stockend. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Aber sie
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