Der Hexer - NR45 - Der abtrünnige Engel
mich in respektvollem Abstand, ohne seine Waffe auch nur einen Moment von mir abzuwenden. Er war wesentlich älter als sein Kollege, und im Gegensatz zu dessen blondem Lockenkopf war sein dunkles Haar bereits schütter geworden. Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Eine Narbe zog sich über seine linke Wange.
»Aber ich will deinem Gedächtnis gerne nachhelfen«, fuhr der jüngere Polizist mit einem häßlichen Grinsen fort. »Als man das junge Mädchen vor drei Tagen in der Carnaby Street überfiel und entführte, warst du das ganz bestimmt nicht, nicht wahr? Und mit dem Überfall auf die beiden Frauen am Soho Square letzte Nacht hast du auch nichts zu tun, wie? Seltsam nur, daß die Beschreibung so genau paßt. Es hat nämlich Zeugen gegeben. Und die Leichen haben wir inzwischen auch gefunden. Hier endet dein blutiger Weg. Der Henker wartet schon.«
Seine Stimme überschlug sich fast, und in jedem seiner Worte schwang Haß mit.
Ich wurde blaß. Die Angst griff wie eine große unsichtbare Hand nach mir. Es handelte sich um eine schreckliche Verwechslung, und ein Blick in die Gesichter der beiden Beamten zeigte mir, wie sinnlos es war, ihnen das zu erklären. Dennoch versuchte ich es.
»Das – das ist absurd«, preßte ich hervor. »Ich bin erst vor wenigen Stunden mit dem Schiff in London eingetroffen. Fragen Sie Captain Goldmann, wenn Sie mir nicht glauben. Seine LADY JANE liegt im Hafen. Fragen Sie ihn nach Robert Craven.«
»Craven?« hakte der ältere Polizist nach. In mir keimte der Verdacht auf, daß ich einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte. Der Verdacht bestätigte sich gleich darauf. »Robert Craven, den Namen habe ich schon einmal gehört. Vor ein paar Monaten haben sie dich doch schon einmal wegen Mordes verhaftet, aber dann wieder laufengelassen.« Er lachte rauh. »Das wird diesmal nicht mehr passieren. O nein, ganz bestimmt nicht. Vorwärts jetzt.«
Verzweifelt blickte ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Es gab keine. Selbst ohne die Handschellen wäre meine Lage aussichtslos gewesen. Es erforderte nicht annähernd so viel Zeit, einen Zeigefinger zu krümmen, wie ich gebraucht hätte, auch nur einen der Männer zu erreichen. Und aus dieser Distanz wäre es das reinste Kunststück gewesen, mich zu verfehlen.
Aber ich gab nicht auf. Mit aller Kraft, die ich aufzubringen imstande war, konzentrierte ich mich auf die Kräfte in meinem Inneren. Der Gedanke, was mit mir passieren würde, wenn mein Versuch fehlschlug, machte die Konzentration fast unmöglich. Ich bemühte mich, jeden störenden Gedanken aus meinem Gehirn zu verbannen, was sich als fast unmöglich erwies.
Die beiden Polizisten wichen meinem Blick aus, was eine Hypnose noch schwerer machte. Gebannt starrte ich auf einen Punkt dicht vor ihnen. Eigentlich hätte jetzt an dieser Stelle die Illusion eines Monstrums entstehen sollen, gegen das sich selbst Cthulhu wie ein possierliches Kuscheltierchen ausgenommen hätte.
Hätte...
Es geschah nichts. Rein gar nichts.
Im ersten Moment war ich zu erschrocken, um überhaupt zu begreifen, was mit mir vorging. Und als ich es begriff, wünschte ich, überhaupt nie nach einer Erklärung gesucht zu haben.
Ich hatte meine Hexer-Kräfte verloren!
* * *
Das Bild hätte einem apokalyptischem Gemälde von Hieronymus Bosch entstammen können.
Auf dem Tisch in einem abgelegenen und seit Monaten verschlossenen Zimmer von Andara-House lag eine Gestalt. Sie war in einen maßgeschneiderten, dunklen Anzug gekleidet. Bis zu den Schultern hinauf sah das Wesen völlig menschlich aus.
Aber es war kein Mensch, wie schon ein flüchtiger Blick zeigte.
Der Kopf des Mannes lag mehrere Handbreit vom Rumpf entfernt, doch kein Tropfen Blut quoll aus der Wunde. Wo sich Knochen, Fleisch und Adern hätten befinden müssen, ragte nur ein sinnverwirrendes Durcheinander von farbigen Drähten, Metallstäben und Zahnrädern aus dem mit künstlicher Haut überzogenen Torso hervor. Die meisten Drähte waren bereits miteinander verbunden.
Erschöpft wischte sich Howard mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Der Raum war von träge wallenden Rauchschwaden erfüllt, die in seinen Augen brannten, doch er nahm es kaum wahr.
Seine Hände zitterten, als er nach den zwei letzten kunststoffüberzogenen Drähten griff und die blanken Kupferenden zusammenbrachte.
Funken sprühten auf, es gab einen Knall, und der durchdringende Gestank nach verbranntem Ozon breitete sich aus. Eines der
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