Der Hexer und die Henkerstochter
beiden Männern einfach erzählt, sie und Simon müssten sich noch einmal um die kranken Pilger kümmern. Doch jetzt in der Stille und der Dunkelheit, die nur von den gelegentlichen Blitzen erhellt wurde, fragte die Henkerstochter sich, ob das Schinderhaus in einer solchen Nacht nicht der bessere Aufenthaltsort gewesen wäre.
Plötzlich bog Jakob Kuisl scharf rechts ab, und schon nach wenigen Augenblicken war den beiden klar, welches Ziel er ansteuerte.
»Die Werkstatt des Uhrmachers!«, stöhnte Simon. »Was um Himmels willen wollen wir denn da?«
»Ich hab jemanden dort hinbestellt«, erwiderte der Henker, ohne sich umzudrehen. »Hab ihm eine Nachricht geschickt, und wenn ich recht hab, wird er dort auftauchen.«
»Und wenn nicht?«, fragte Magdalena.
»Dann fahr ich nach Weilheim, reiß dem Scharfrichter den Kopf ab und hol den Nepomuk eigenhändig aus der Fronveste.«
Magdalena zuckte zusammen. »Dann lass uns nur hoffen, dass du recht hast. Ich will meinen Vater nämlich in Zukunft nicht in Einzelteilen an allen Ecken Weilheims besuchen müssen, hübsch aufgespießt und mit Teer bestrichen.«
Die Fassade des Uhrmacherhauses, die in der hellen Sonne so freundlich gewirkt hatte, machte jetzt bei Regen und Dunkelheit einen düsteren Eindruck. Geduckt und etwas schief kauerte das Gebäude mit seinem Vorgarten und der niedrigen Mauer zwischen den Klosterschuppen wie ein Fremdkörper, der nicht zu den übrigen Anwesen passte. Die Tür sah verschlossen aus, doch als Jakob Kuisl dagegendrückte, schwang sie knarrend auf.
Der Henker zog eine Laterne unter seinem nassen Mantel hervor und schaute auf die unheimliche Szenerie vor ihm. Das Krokodil an der Decke, die zerborstenen Möbel, die Brandflecken am Boden – alles war noch genauso, wie er es letzte Nacht vorgefunden hatte.
»Wir haben noch ein wenig Zeit«, sagte Jakob Kuisl. »Ich hab unseren Freund erst zum Elfuhrläuten herbestellt. Aber ich dachte, es kann nicht schaden, wenn wir ein wenig eher hier sind.« Er grinste. »Nicht, dass wir noch eine böse Überraschung erleben.«
»Welchen Freund?«, fragte Simon und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren. »Bei allen Heiligen, jetzt redet doch endlich! Ich kann mir wirklich Besseres vorstellen, als bei einem blitzzuckenden Gewitter durch ein Spukhaus zu schleichen, in dem ein Mann bei lebendigem Leib verbrannt und ein anderer vermutlich von einem Golem entführt wurde!«
Ohne zu antworten, winkte Jakob Kuisl seinen Schwiegersohn hinüber zu der schmalen Stiege, die nach oben führte. »Komm schon, du Hasenfuß!«, sagte er verschmitzt lächelnd. »Ich zeig euch was, was euch gefallen wird. Versprochen.«
»Euer Wort in Gottes Ohr. Wenn’s denn unbedingt sein muss.«
Zu dritt gingen sie über die Schlafkammer des Gehilfen nach oben in die kleine Bibliothek, die Jakob Kuisl am Vorabend entdeckt hatte. Als Simon die Regale mit den vielen Büchern sah, änderte sich seine Laune schlagartig. Jegliche Angst war verflogen. Begeistert zog er einige der Wälzer hervor und begann darin zu blättern.
»Das … das ist ein wahrer Schatz!«, hauchte er. »Seht nur!« Er hielt einen fleckigen Folianten empor. »Das ›Opus Maius‹ des Franziskaners Roger Bacon, mit Illustrationen. Das muss ein Vermögen wert sein! Und hier Agrippas ›De occulta philosophia‹!«
»Wunderbar«, erwiderte Magdalena trocken. »Nur leider sind wir nicht zum Lesen hier, sondern um einen Verrückten zu fangen. Also stell die gottverdammten Bücher zurück ins Regal und hör auf, herumzuschreien.«
»Ist ja gut, ich dachte nur …«
Plötzlich fiel Simons Blick auf den vorderen Buchdeckel des »Opus Maius«, in dem ein goldfarbener Stempel prangte.
Sigillum universitatis paridianae salisburgensis …
»Ein Buch aus der Salzburger Universität?« Der Medicus runzelte die Stirn. »Aber wieso …« Etwas an dem Stempel irritierte ihn, doch gerade, als er ihn genauer betrachten wollte, ertönte von unten aus dem Erdgeschoss ein Geräusch. Es war das Knarren der Eingangstür, und nur einen Augenblick später schlugen die Kirchenglocken die elfte Stunde.
»Ah, unser Freund kommt«, sagte der Henker. »Ich hab mich wohl doch nicht getäuscht. Lasst uns nach unten gehen und ihn begrüßen.«
Leise schlich Kuisl die Stiege hinunter in die Schlafkammer des Gehilfen, dicht gefolgt von Simon und Magdalena. Unten angekommen, näherten sie sich auf Zehenspitzen der angelehnten Tür, die in die Werkstatt führte. Als Simon durch
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