Der Hexer und die Henkerstochter
den Schlitz linste, sah er zunächst nur ein Leuchten, das wie ein Irrlicht durch den Raum huschte. Plötzlich war eine leise, heisere Stimme zu hören.
»Virgilius?«, flüsterte sie. »Virgilius, bist du hier? Hast du die Monstranz?«
Simon zuckte zusammen. Die Stimme kam ihm bekannt vor, und nun sah er auch den Mann dazu. Es war ein Mönch in schwarzer Kutte, der mit dem Rücken zu ihnen stand und mit einer Fackel den Raum ableuchtete. Die Kapuze trug er tief ins Gesicht gezogen, seine Gestalt war vorgebeugt, so als würde er wie ein eifriger Spürhund den Boden absuchen.
»Mein Gott, der Hexer!«, flüsterte Magdalena. »Das ist der Mann, den ich oben im Turm …«
Simon hielt ihr die Hand vor den Mund, doch es war zu spät. Der Unbekannte hatte sie gehört. Kurz wandte er den vermummten Kopf in ihre Richtung, dann rannte er mit hastigen Schritten auf den Ausgang zu.
»Bleib stehen, du Hundsfott!«, rief ihm Magdalena nach. »Wart nur, ich werd dich lehren, was es heißt, eine Henkerstochter vom Turm zu werfen!«
Sie griff nach einer der beiden kupfernen Kugelhälften, die vor ihr auf dem Boden lagen, und warf sie dem Mann hinterher. Es gab ein dröhnendes Geräusch, so als würde eine Glocke schlagen, der Mönch taumelte noch einige Schritte nach vorne, schließlich stürzte er und blieb offensichtlich benommen am Boden liegen. Die Fackel rollte zur Seite und erlosch mit einem letzten Flackern, dann herrschte im Raum undurchdringliche Schwärze. Auch vom Henker und seiner Laterne war nichts mehr zu sehen.
Simon war für einige Sekunden wie erstarrt, verzweifelt versuchte er, in der Dunkelheit vor sich irgendetwas zu erkennen. Endlich glaubte er einen Schemen ausmachen zu können. Er griff nach der zweiten Kugelhälfte und rannte, gefolgt von Magdalena, zu der Stelle, wo sich ein menschenförmiger Schatten schwankend bewegte. Offenbar war der Mann gerade im Begriff, sich wieder aufzurichten. Ein leises Stöhnen ertönte.
»Stehen bleiben!«, rief Simon hinein in die Dunkelheit. »Im Namen des Klosters, Ihr seid verhaftet!«
Der Schatten kam nun hinkend und schnaufend auf sie zu. Simon schwang die mehrere Pfund schwere Kupferschüssel in der Absicht, sie bei der geringsten Gegenwehr auf den Schädel des Hexers niedersausen zu lassen.
Mit einem Mal drehte sich der Mann um und rannte erneut auf den Ausgang zu. Magdalena eilte ihm nach, doch der Unbekannte holte mit dem Arm aus und versetzte ihr einen Stoß, der sie zurücktaumeln ließ.
»Simon, halt ihn auf!«, keuchte sie. »Er darf uns nicht entwischen!«
Simon hob die Kugelhälfte über seinen Kopf und wollte sie soeben werfen, als sich plötzlich ein weiterer großer Schatten vor die offen stehende Tür schob.
Es war der Schongauer Henker.
»Aufhören, sofort!«, rief er. »Alle drei! Oder ich prügel euch so windelweich, dass ihr nur noch auf Knien durch die Kirche rutschen könnt! »
Mit der linken Hand schloss Jakob Kuisl krachend die Tür, die rechte hob die Laterne empor und leuchtete direkt in das Gesicht des Mönchs, dem während des Kampfes die Kapuze vom Kopf gerutscht war.
Als Simon den Mann endlich erkannte, musste er die Lippen zusammenpressen, um nicht laut aufzuschreien.
Es war der Andechser Abt, und er war sehr zornig.
Donnerstag, der 17. Juni Anno Domini 1666,
kurz vor Mitternacht in Andechs
eid gegrüßt, Hochwürden«, sagte Jakob Ku isl und kam mit der Laterne näher, so dass Simon und Magdalena das schweißgebadete, fahle Gesicht des Abts sehen konnten.
Maurus Rambeck keuchte, seine Kutte war vom Kamp f staubbedeckt und unten am Saum zerrissen, ein dünner Faden Blut rann ihm über die Stirn. Trotzdem versuchte er die Würde auszustrahlen, die seinem Amt angemessen war.
»Was … was fällt euch Pack ein!«, zischte er, während er stöhnend aufstand und sich die Wunde am Kopf rieb. »Ein Angriff auf den Andechser Abt! Seid ihr wahnsinnig? Das kann euch alle miteinander den Kopf kosten!«
»Oder Euch«, erwiderte der Henker trocken. »Das wird sich noch zeigen. Übrigens, wenn Ihr Euren leiblichen Bruder Virgilius sucht, dann muss ich Euch enttäuschen. Er ist nicht hier, die Nachricht war von mir.«
»Leiblicher … Bruder?« Simon blieb vor Staunen einen Moment lang die Luft weg. Noch immer konnte er es kaum begreifen, dass es tatsächlich der Andechser Abt war, der hier wie ein geprügelter Straßenräuber vor ihnen stand. Sollten sie sich getäuscht haben? War das alles ein großes Missverständnis? Dann drohte
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