Der Hexer und die Henkerstochter
Ritzen hindurch die Gesichter der Menschen sehen können; Gesichter von Bauern, die den merkwürdigen Zug mit einer Mischung aus Abscheu, Angst und Erregung vorüberfahren sahen. Nicht wenige hatten ein Kreuz geschlagen oder mit den Fingern ein Zeichen gegen das Böse gemacht.
Nepomuk musste an seine letzte Begegnung mit Jakob Kuisl denken. Sein Freund hatte ihn gebeten, nicht die Hoffnung zu verlieren. Doch wie sollte man in dieser Hölle noch hoffen? Und überhaupt, was konnte ein ehrloser Schongauer Scharfrichter schon ausrichten, wenn der Weilheimer Landrichter höchstpersönlich, der Andechser Abt, der Prior, wenn die ganze Welt ihn auf dem Schafott sehen wollte? Nepomuk schloss die Augen und floh in einen Dämmerzustand. Bilder von besseren Tagen tauchten in seinem Inneren auf und halfen ihm, die Angst ein klein wenig beiseitezuschieben. Doch plötzlich wurden auch diese Erinnerungen von Blut überschwemmt …
… Er und Jakob auf einem Schlachtfeld im Winter bei Breisach am Oberrhein, die Leichen von Schnee bedeckt, wie kleine Hügel in der sonst kahlen Landschaft. Tagelang sind sie durch zerstörte, ausgestorbene Dörfer geritten, durch verbrannte Städte, in denen gebeugte Kreaturen die Karren mit Pestleichen durch die Straßen ziehen, oft sind diese Gestalten die einzigen Lebenden in einer sonst leeren Welt. Nepomuk hat die Bibel gelesen, er kennt die Prophezeiung des Johannes. Ist dies die Apokalypse? Manchmal fragt er sich, wie er und Jakob das alles aushalten, ohne zu Tieren zu werden wie so viele andere. Es sind wohl ihre langen Gespräche abends am Lagerfeuer, das Streiten über Gesetze der Mechanik, über Medizin und Moral, es sind die vielen Bücher, die sie aus verkohlten Ruinen gerettet haben, und auch der Glaube, den Nepomuk spürt, wenn er vor dem besudelten Altar einer kleinen Dorfkirche kniet. Während Nepomuk betet, wartet Jakob draußen auf ihn. Der Sohn des Schongauer Scharfrichters will nicht beten zu einem Gott, der dies alles zulässt. Jakob sagt, er glaube an seinen Verstand und das Gesetz, sonst nichts.
Doch wenn Nepomuk schließlich mit andächtiger Miene aus der Kirche zurückkommt, meint er in den Augen seines Freundes beinahe so etwas wie Neid zu sehen …
Ein schabendes Geräusch über ihm ließ Nepomuk aufschrecken. Als der Mönch den Blick nach oben richtete, sah er in der Dunkelheit einen schmalen Streifen Licht, der größer und größer wurde. Jemand öffnete die Luke. Draußen dämmerte offenbar schon der Morgen.
Nepomuk hielt sich die Hand vor die Augen. Das wenige Licht reichte aus, ihn zu blenden. Erst nach einer Weile sah er blinzelnd weit über sich einzelne Gesichter. Es waren keine Wachsoldaten, sondern die Köpfe fremder Menschen, gekleidet in die einfachen Gewänder von Bauern und Handwerkern. Etwa ein halbes Dutzend von ihnen starrte hinab in das Loch und versuchte dort unten etwas zu erkennen. Einige von ihnen glaubte Nepomuk bereits gestern Nachmittag gesehen zu haben, als er unter dem wüsten Geschrei der Menge aus der Kiste gezerrt und in den Weilheimer Faulturm gebracht worden war.
»He! Lebt der überhaupt noch?«, fragte einer der Männer mit rundem Mondgesicht. »Der bewegt sich ja gar nicht, und sehen kann ich auch nichts. Ich will mein Geld zurück, wenn der nicht mehr lebt.«
»Schmeiß mal einen Stein runter, dann wirst es ja sehen«, meldete sich ein bärtiger Mann an seiner Seite. »Aber sei vorsichtig, sonst triffst du ihn am Kopf, und uns entgeht eine schöne Hinrichtung!«
Die anderen lachten, Nepomuk konnte auch Kindergeschrei hören. Dann sah er plötzlich einen glühenden Punkt auf sich zurasen. Geistesgegenwärtig warf der Apo theker sich zur Seite, wobei er mit der Schulter an der rauen Felswand entlangschrammte. Blind vor Schmerz schrie er auf. Neben ihm fiel eine Fackel zu Boden und flackerte blakend vor sich hin. Glücklicherweise war das Stroh so feucht, dass es nicht zu brennen anfing.
»Schaut, wie hässlich er ist!«, schrie das Mondgesicht. »Die Soldaten haben recht gehabt. Er sieht wirklich aus wie eine fette Kröte!«
»He, Hexer!«, ertönte die keifende Stimme einer Frau. »Kannst du fliegen? Flieg doch zu uns hoch! Oder hast du keinen Besen mehr?«
Wieder schrien und lachten die Leute. Nepomuk vergrub den Kopf in seinen Händen und gab sich Mühe, alles um ihn herum auszublenden. Doch da rauschte schon ein weiterer Gegenstand auf ihn zu. Diesmal war es ein Lehmklumpen, der ihn am Rücken traf. Schmerz brandete
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