Der Hexer und die Henkerstochter
in der man an Mechanik und empirisches Wissen glaubte, und nicht mehr an Golems und Zauberformeln. Was aber, wenn die Wissenschaft nicht recht hatte? Wenn es tatsächlich so etwas wie leibhaftige beseelte Teufel gab? Oder hatte Virgilius etwa einen Automaten erschaffen, der sich allein aufgrund von Mechanik bewegen, der denken und der auch töten konnte? Vielleicht hatte dieser Automat ja seinen eigenen Schöpfer umgebracht.
Und danach verbrannt und in einen Brunnen geworfen? Wie sollte so etwas gehen?
Noch einmal prüfte Simon Laurentius’ Herzschlag, der nun wieder schwach zu fühlen war. Der Mönch war in einen totenähnlichen Schlaf gefallen. Nicht einmal seine Fingerkuppen unter den Verbänden zuckten noch.
Von den anderen Betten war das Stöhnen einzelner Kranker zu vernehmen. Simon bezweifelte, dass sie von dem unheimlichen Vorfall gerade eben etwas mitbekommen hatten. Ebenso wenig die betenden und singenden Pilger, die draußen vor der Tür zu hören waren. Der Medicus musste an Jakob Kuisls Warnung denken, der Hexer oder vielleicht einer seiner Helfer könnte in den nächsten Stunden ins Hospital kommen, um einen lästigen Mitwisser zu beseitigen.
Wenn er noch ein wenig wartet, wird er sich die Mühe sparen können , dachte Simon. Dieser Mann hier hat nicht mehr lange zu leben. Es wäre an der Zeit, ihm die Letzte Ölung zu verabreichen.
Um sich abzulenken, griff Simon nach der Andechser Chronik, die er, eingeschlagen in ein schmutziges Tuch, unter einem der Betten versteckt hatte. Er blätterte in dem kleinen Büchlein, bis er an die Stelle kam, wo die alte Burg beschrieben war. Vielleicht würden ihm die Seiten ja Aufschluss geben über die Gänge, die er zuvor im Plan des Grafen gesehen hatte.
Bislang hatte Simon nur gelesen, dass die Burg durch »feigen schnöden Verrat« gefallen war. In einem weiteren Kapitel wurde nun näher darauf eingegangen. Offenbar waren die Andechs-Meranier vor vielen Hundert Jahren das führende Geschlecht in Bayern gewesen. Doch ganz plötzlich hatten die Wittelsbacher die Herrschaft übernommen.
Gespannt versenkte sich Simon in die winzig gekrakelten Zeilen und erfuhr, dass im Jahre 1208 während einer Hochzeit in Bamberg der Wittelsbacher Herzog Otto den Stauferkönig Philipp ermordet hatte, immerhin ein Sohn des berühmten Kaisers Barbarossa. Die Hintergründe dieses Mordes konnten offenbar nie ganz geklärt werden. Otto wurde für vogelfrei erklärt, in Oberndorf bei Kelheim festgenommen und noch an gleicher Stelle enthauptet.
Nachdenklich blätterte Simon um und stutzte plötzlich. Bei den anschließenden Ermittlungen zum Mord an König Philipp wurden interessanterweise nicht die Wittelsbacher, sondern die Andechser der Verschwörung beschuldigt! Ihre sämtlichen Güter wurden eingezogen und den Wittelsbachern zugesprochen. Darunter auch die Andechser Burg, die nach langen Kämpfen schließlich gestürmt und bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Die Eroberung des Stammsitzes wurde in der Chronik in markigen Worten geschildert.
Träumerisch tauchte der Medicus ein in eine Welt, die bereits Hunderte von Jahren zurücklag und durch die kargen lateinischen Worte wieder zu neuem Leben erwachte. Wie so oft, wenn er las, versank Simon in den Bildern, die die Buchstaben in seinem Kopf hervorzauberten. Plötzlich glaubte er, das Funkeln der Rüstungen zu sehen, die Schreie der Angreifer zu hören, er roch die Mischung aus Blut und Pferdeschweiß, die während der Erstürmung der Burg in der Luft lag. Simon saß auf einem Stuhl im Jahre 1666 und war zur gleichen Zeit über vierhundert Jahre zurückgereist. Seine Lippen bewegten sich lautlos, während die Finger über die Zeilen glitten …
Hoch ragen die Zinnen über das Kiental, eine trutzige Festung, auf deren Brüstung die Verteidiger aufgeregt auf und ab laufen. Unten, vor dem Burggraben, sammeln sich unterdessen auf einer gerodeten Fläche die Wittelsbacher Fußsoldaten und Ritter zum letzten Sturm. Wochenlang sind sie gegen die Burg des Feindes angerannt, mit Katapulten haben sie zentnerschwere Felsbrocken geschleudert; sie haben haushohe Belagerungstürme gebaut und sind mit Rammen immer wieder gegen das Burgtor gestürmt. Feuer, Pech und Schwefel sind auf sie heruntergeregnet. Ihre Mineure haben Gänge ausgehoben, die sie bis direkt unter die Burgmauern führten. Viele starben, noch mehr wälzen sich, gepeinigt von Fieber und Wundbrand, in den Zelten, die sich wie rote Pusteln durch den gerodeten Wald
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