Der Hexer und die Henkerstochter
ziehen.
Sie wünschen ihren Feinden den Tod, und sie wissen, dass heute der Tag der Rache gekommen ist.
Der Verräter hat sie viel Geld gekostet, doch er hat ihnen gesagt, wo der Fluchttunnel liegt. Er hat ihnen das Versteck gezeigt, durch das die Belagerten immer wieder frisches Fleisch, Mehl und Wein in die Burg geschmuggelt haben. Nicht genug, um die ganze Garnison damit zu versorgen, doch immerhin so viel, dass sie die letzten Monate durchgehalten haben.
Heute wird damit Schluss sein.
Eine kleine Einheit der besten Kämpfer hat sich durch den Tunnel auf den Weg in die Burg gemacht. Sie haben den Wachen lautlos die Kehlen durchgeschnitten, sie haben eine Schneise von Blut und Verderben aus den Tiefen der Burg bis in den Hof geschlagen, und nun hört man sie drinnen hinter den Mauern schreien. Sie werfen sich der Tormannschaft entgegen, sie schieben die drei jeweils balkengroßen Riegel zur Seite, und endlich öffnet sich das schwere Tor und macht den Weg frei für die gut dreihundert Kämpfer, die vor der Burg nur auf diesen Augenblick gewartet haben.
Ein Schrei ertönt aus vielen Kehlen, so laut, als würde die Erde selbst sich auftun und nach Vergeltung rufen.
Und dann beginnt das große Morden.
Die Männer, die ihnen mit erhobenen Schwertern im Burghof entgegentaumeln, sind ebenso wie sie selbst durch Krankheit und Hunger geschwächt. Es sind nur noch wenige, ein paar Dutzend vielleicht, die ausgeharrt haben. Sie lassen sich wie tolle Hunde abstechen und niederhauen.
»Tod allen Andechsern!«, rufen die Angreifer, und ihre Augen sind wie die von wilden Tieren. »Tod, Tod, Tod!«
Blut fließt über die steinernen Treppen und lässt die Männer immer wieder ausrutschen. Doch getrieben von ihrem Hass und ihrer Gier streifen sie von Zimmer zu Zimmer, auf der Suche nach Frauen, Wein, Essen und Schätzen. Man hat ihnen Schätze versprochen, doch wo sind die verfluchten Schätze? Der Wittelsbacher Herzog hat ihnen gesagt, hier lägen mehr Kostbarkeiten als im ganzen Heiligen Land! Das Gold dürften sie behalten, nur die Reliquien, die zahllosen Reliquien, die will der Herzog für sich.
Sie rennen durch den Zwinger, stürmen den Burgfried, durchsuchen die Kemenaten und die brennenden Ställe, bis sie endlich vor der Kapelle im inneren Burghof stehen. Ein Pries ter stellt sich ihnen händeringend in den Weg, doch sie stoßen ihn zur Seite, durchbohren ihn mit Lanzen und schlagen die Tür zur Kapelle ein. Hier müssen sie sein, die märchenhaften Schätze, von denen ihr Herzog so oft gesprochen hat!
Der Raum dahinter ist leer.
Keine Reliquien, keine Schätze, keine einzige gottverfluchte Münze – alles ist längst fortgeschafft worden! Der Hass der Männer steigert sich ins Unermessliche, sie brennen alles nieder, suchen im Chaos nach Überlebenden, die ihnen verraten, wo sich die kostbaren Reliquien befinden. Doch es gibt keine Überlebenden mehr, sie haben sie alle niedergemetzelt. Und so suchen die Männer immer verzweifelter, drehen jeden Stein um, graben, fluchen, schänden die Leiche des Priesters – es ist zwecklos.
Die Reliquien sind verschwunden.
Als sie endlich abziehen, ist von der stolzen Burg nur noch eine rauchende Ruine übrig. Ein Trümmerfeld, über das schon bald Efeu und Moos wachsen. Die Burg wird wieder das, was sie einst gewesen ist.
Stummer Fels.
Erst Jahrhunderte später wird eine kleine Maus das Versteck der Reliquien preisgeben. Zu diesem Zeitpunkt sind all die Kämpfe, all das Leid, all die Ritter in ihren funkelnden Rüstungen längst vergessen …
Nur der Traum von den Schätzen lebt weiter, bis heute …
Simon legte das Buch zur Seite und spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.
Plötzlich glaubte er zu wissen, was der Graf in den alten Gängen der Burg suchte. Konnte es sein, dass sich dort unten immer noch die damals versteckten Schätze und Reliquien befanden? Zwar war ein Teil der Heiligtümer ein paar hundert Jahre später wieder aufgetaucht, doch wenn diese Burg wirklich der Stammsitz der Andechs-Meranier war, dann war es gut möglich, dass noch viele weitere Kostbarkeiten in irgendwelchen geheimen Verstecken ihrer Auffindung harrten. Waren etwa auch der Bibliothekar und seine Helfer hinter diesen Schätzen her? Hatten sie sie schon gefunden?
Bevor Simon weiter darüber nachdenken konnte, schreckte ihn ein Jammern von einem der hinteren Betten auf. Einer der Twangler-Brüder hatte Durst. Simon brachte ihm einen Becher Wasser und warf bei dieser
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